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Wirtschaftssoziologie
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Das Original: Gabler Wirtschaftslexikon
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Inhaltsverzeichnis
Entwicklung
Die Untersuchung der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Gesellschaft stand im Zentrum der Soziologie während ihrer Gründungsphase als akademisches Fach (1890-1920). Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber entwickelten Gesellschaftstheorien, in denen das Zusammenspiel von Wirtschaft, Kultur und Sozialstruktur im Mittelpunkt stand. In Teilen sind diese Theorien eng verbunden mit der institutionalistischen Theorie der Historischen Schule.
Mit der Durchsetzung der Formalisierung der neoklassischen Wirtschaftstheorie in den 1920er- und 1930er-Jahren etablierte sich dann eine Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Wirtschaftstheorie, in der die Soziologie sich vornehmlich mit eng umgrenzten Randbereichen der Wirtschaft beschäftigte. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1903-1979) stellte sich die Arbeitsteilung zwischen den beiden Fächern so vor, dass die Ökonomie sich mit dem universellen Prinzip der Zweck-Mittel-Relation im individuellen Handeln beschäftigt, während die Soziologie die Ursprünge dieser Zwecke in den sozialen Werten suche. Diese Vorstellung passte sehr gut zu den westlichen kapitalistischen Gesellschaften der Nachkriegszeit, in denen die Ökonomie als politisch steuerbarer Apparat zur Erfüllung politisch gesetzter gesamtgesellschaftlicher Ziele erschien. Die Wirtschaftssoziologen in der Nachkriegszeit konzentrierten sich auf die Analyse der tayloristischen Arbeitsorganisation in den Unternehmen und der institutionellen Regulierung von Branchen und Sektoren.
Mit der Krise der keynesianischen Makrosteuerung und der beginnenden Deregulierung von Märkten am Ende der 1970er-Jahre traten jedoch die Fragen nach der Funktionsweise von Märkten, den Dynamiken des Wettbewerbs und den Entscheidungsprozessen von Unternehmen wieder ins Zentrum der Soziologie. Dies traf zusammen mit einer Krise des neoklassischen Paradigmas innerhalb der Wirtschaftstheorie: Die makroökonomischen Standardmodelle boten kaum Erklärungen für die zu beobachtende Stagflation und die immer forcierteren Krisendynamiken. Aus mikroökonomischer Perspektive stellten sich Herausforderungen wie das Prinzipal-Agenten-Problem, Moral Hazard und Informationsasymmetrien. Paradoxerweise ging diese Krise der Wirtschaftstheorie der Nachkriegszeit mit der Ausweitung ökonomischen Denkens in der Soziologie einher: Das wirtschaftswissenschaftlich inspirierte Rational-Choice-Modell drang in verschiedenste Bereiche der Soziologie vor. Dieser „ökonomische Imperialismus“ veranlasste Soziologen zu einer Gegenreaktion: In der Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Phänomenen wollten sie zeigen, dass das ökonomische Handlungsmodell schon bei der Erklärung seines genuinen Gegenstandsbereichs Wirtschaft erhebliche Defizite aufweist. Damit aber begann die Soziologie, die von Talcott Parsons gezeichnete Abgrenzung der beiden Disziplinen zu überschreiten und sich wieder mit wirtschaftlichen Kernbereichen zu beschäftigen.
In den USA zeigte sich die Renaissance der Wirtschaftssoziologie zuerst in der Netzwerk- und Organisationsforschung. Eine zentrale Bedeutung für die neue Wirtschaftssoziologie erlangte der in einem einflussreichen Aufsatz von Mark Granovetter eingeführte Begriff der „Einbettung“, mit dem der konstitutive Zusammenhang von wirtschaftlichem Handeln mit Netzwerkstrukturen, kognitiven Mustern und politischen Institutionen erfasst wird. In Europa setzte die Renaissance der Wirtschaftssoziologie erst in den neunziger Jahren ein. Seitdem ist sie eines der schnell wachsenden und erhebliche Aufmerksamkeit findenden Felder der Soziologie.
Begriff und Abgrenzung
Die Wirtschaftssoziologie betrachtet wirtschaftliches Handeln als eine Form sozialen Handelns. Im Unterschied zur modernen Wirtschaftstheorie geht sie nicht von der Nutzenkalkulation des Einzelnen aus. Ökonomische Entscheidungen und Transaktionen sind durch gesellschaftliche Einflüsse und kollektive Deutungsmuster geprägt. Soziale Herkunft, Normen, Routinen, Netzwerke, Organisationen und Institutionen gehen aus Sicht der Wirtschaftssoziologie nicht nur als Kosten in die rationale Kalkulation des Wirtschaftsakteurs ein, sondern schaffen erst die Handlungsorientierung der Akteure. Entsprechend werden Märkte und Unternehmen nicht als Aggregation individueller Entscheidungen verstanden, sondern als soziale Ordnungen mit Prägekraft für das wirtschaftliche Handeln. Darauf baut die wirtschaftssoziologische Kritik an den theoretischen Grundannahmen des Standardmodells der Wirtschaftstheorie auf:
Ungewissheit und Koordinationsprobleme
Der Homo oeconomicus der Wirtschaftstheorie trifft Entscheidungen nach Maßgabe der Nutzenmaximierung. Wirtschaftliche Entscheidungen sind aber sehr häufig Entscheidungen unter Ungewissheit, d.h. die Handlungsweisen und Reaktionen der anderen Akteure am Markt oder im Unternehmen sind für den Einzelnen nicht prognostizierbar. Auch die Bestimmung von Erwartungswerten oder Transaktionskosten löst das Problem nicht, da die Reaktionsweisen der anderen Marktteilnehmer in vielen Situationen ihrerseits zu komplex und instabil sind, um als Risiken mit einem stabilen Erwartungswert kalkulierbar zu sein. So lassen sich nutzenmaximierende Entscheidungen nicht rational kalkulieren und es entstehen systematische Koordinationsprobleme, die sich aus der nicht vorhersehbaren Kontingenz des Handelns der beteiligten Akteure und Veränderungen der Umwelt ergeben. Angesichts dieser Ungewissheit orientieren sich wirtschaftliche Akteure an Routinen, Netzwerken oder sozialen Normen und Institutionen. Dadurch bleibt ökonomische Rationalität immer auf einen sozial und kulturell definierten Raum als relevant erachteter Informationen beschränkt, der sich mit dem historischen Kontext und der konkreten Situiertheit der Handlung wandelt. Koordinationsprozesse auf Märkten und in Unternehmen können nicht aus den Einzelentscheidungen der Akteure abgeleitet werden, sondern nur durch Einbeziehung des sozialen Kontexts.
Das Problem instabiler Präferenzen
Nach dem wirtschaftstheoretischen Modell des Homo Oeconomicus treffen die Marktakteure ihre Entscheidungen auf Grundlage einer feststehenden Präferenzordnung, die die subjektive Wertordnung der Güter und Dienstleistungen widerspiegelt. Bewertungen und Präferenzen verändern sich jedoch endogen durch Interaktion auf dem Markt oder in Unternehmen. Werbung und Marketing, aber auch der situative, räumliche Kontext des Tauschs oder des Wettbewerbs beeinflussen, wie die Akteure Güter, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren bewerten und welche Preise zu zahlen sie bereit sind. Darüber hinaus sind diese Wertigkeiten nicht notwendigerweise den getauschten Objekten inhärent, sondern hängen auf vielen Märkten, wie etwa dem Kunst- oder Finanzmarkt, von dem Urteil von Experten und damit von einem komplexen Kommunikationsprozess ab. Dies bedeutet dann aber auch, dass die Trennung von fixer Präferenzordnung und situativer Entscheidung nicht aufrechterhalten werden kann, sondern dass die Präferenzen der Akteure sich kontextbedingt jederzeit ändern können.
Das Problem der Dynamik
Josef Schumpeter beschrieb, dass bedeutende Elemente der kapitalistischen Ökonomie wie Profit, Innovation, Wachstum und Krisen mit dem Gleichgewichtsmodell der Wirtschaftstheorie nicht erklärt werden können. An diese konzeptionelle Lücke der (statischen) Wirtschaftstheorie knüpft auch die Wirtschaftssoziologie an. Gerade für die moderne Wirtschaft sind die dynamischen Elemente von herausragender Bedeutung. Das gleiche gilt für wirtschaftliche Institutionen und Organisationen: Sie entstehen nicht unbedingt, wie etwa die Transaktionskostentheorie nahelegt, als effiziente Lösungen für Koordinationsprobleme, sondern ihre Entstehung und ihr Wandel folgen häufig Pfaden, die auf innere Dynamiken der Institutionen selbst oder auch äußere gesellschaftliche und politische Einflussnahme zurückgeführt werden können. Sie sind daher nicht unbedingt effizient und auch nicht stabil. So verschieben sich die Opportunitäten für Anbieter und Nachfrager auf dem Markt nicht nur durch exogene Schocks.
Forschungsfelder
Entstehung, Struktur und Entwicklung von Märkten
Einen Schwerpunkt wirtschaftssoziologischer Forschung bildet die Frage nach der Entstehung, der Stabilität und dem Wandel der sozialen Ordnung von Märkten. Harrison White hat die Struktur von Märkten als Resultat der gegenseitigen Beobachtung von Produzenten in einem Markt beschrieben. Auf Grundlage der so gewonnenen Informationen grenzen sie ihre Produkte durch Nischenbildung voneinander ab. Neil Fligstein analysiert die Bestrebungen der in einem Markt etablierten Unternehmen, den Markteintritt für neue Bewerber durch die Etablierung allgemeinverbindlicher kognitiver und institutioneller Standards zu erschweren. Jens Beckert hat beschrieben, wie ökonomische Koordinationsprobleme auf Märkten zur Orientierung an sozialen Normen, Institutionen und Routinen führen. Verschiedene Autoren betonen zudem die Rolle kultureller Deutungsmuster für die Ausgestaltung neuer Märkte und Produkte. So zeigt Frank Dobbin den Einfluss der institutionalisierten wirtschaftlichen Leitbilder auf die Ausgestaltung neuer Branchen am historischen Beispiel der Eisenbahnindustrie. Viviana Zelizer zeigt in ihren Studien zu Geld, Lebensversicherungen und der ökonomischen Bedeutung von Kindern, dass wirtschaftliches Verhalten kulturell indiziert ist und die Expansion des Marktprinzips der normativen Legitimierung bedarf.
Die soziale Konstruktion von Wert
Auf vielen Märkten lässt sich die Bewertung der Produkte nicht aus deren physischen Eigenschaften ableiten. Auf Produktmärkten für Kunst, Wein, Antiquitäten oder Mode ist der Wert der Güter selbst Ergebnis sozialer Prozesse, in dem Experten und politisch oder kulturell festgelegte Marker die Qualitätszuschreibungen der Marktteilnehmer beeinflussen. Dies illustrieren etwa die Arbeiten von George Akerlof, Patrik Aspers oder Lucien Karpik. Ein besonderer Fall ist hier der Finanzmarkt, auf dem Ratings und andere Verfahren der Risiko- und Chancenanalyse den Marktwert konstituieren. Auf Konsummärkten wandeln sich Marketingstrategien und Nachfrageverhalten zugunsten einer wachsenden symbolischen Aufladung von Produkten. Autoren wie David Stark oder Christoph Deutschmann beschäftigen sich vor dem Hintergrund der Frage des Wertes mit den Handlungsorientierungen von Unternehmern und den organisationsstrukturellen Voraussetzungen der Schaffung von Wert. Wann werden Investitionen als profitabel angesehen und wie lassen sich kreative Prozesse so organisieren, dass Innovationen wahrscheinlicher werden?
Die Performativität wirtschaftlichen Handelns
Vor allem europäische Autoren wie Michel Callon und Donald MacKenzie schreiben der Wirtschaftstheorie selbst einen Einfluss auf wirtschaftliches Handeln zu. Die aus der Technik- und Wissenschaftssoziologie stammende „Performativitätsthese“ besagt, dass Akteure durch Sozialisations- und Lernprozesse die dem Modell entsprechende Art der Kalkulation übernehmen und somit erst zu den rationalen Entscheidern werden, die die Wirtschaftstheorie in ihren Prämissen bereits voraussetzt. Ökonomische Rationalität entsteht demnach als Produkt von Kognitionen. Herbert Kalthoff analysiert z.B., wie Banken Wissen über die wirtschaftliche Umgebung erzeugen und darauf ihre Modelle der Risikobewertung aufbauen. Marie-France Garcia-Parpet betrachtet die räumliche und institutionelle Einrichtung von Märkten als Vergegenständlichung von Marktmodellen.
Märkte und Institutionenregime
In der Politischen Ökonomie hat sich in den letzten Jahren die Analyse verschiedener Spielarten des Kapitalismus zu einem Schwerpunkt entwickelt. Beiträge zu dieser Debatte, wie etwa die Arbeiten von Peter Hall und David Soskice zu den „Varieties of Capitalism“ oder die breite Literatur zur Regulierung national und sektoral unterschiedlicher industrieller Beziehungen, zeigen die Prägekraft institutioneller Regeln der Ökonomie für die Wettbewerbsstrategien von Unternehmen. Verschiedene Wege zur Profitabilität sind denkbar. Typologisch wird dabei dem angelsächsischen marktliberalen Modell, das eher dem wirtschaftswissenschaftlichen Marktmodell entspricht, das Modell kontinentaleuropäischer koordinierter Marktökonomien gegenüber gestellt, mit seiner Struktur der Etablierung langfristiger Beziehungen zwischen Unternehmen, Arbeitnehmern und Finanzgebern. Die institutionellen Strukturen bestimmen die Entwicklungspfade der Ökonomien in der Frage von Innovation, technischem Wandel und der Reaktion auf Strukturwandel.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes
In den letzten Jahren haben sich Autoren wie Christoph Deutschmann, Geoffrey Ingham und Axel Paul mit der Rolle des Geldes in der modernen Gesellschaft auseinandergesetzt. Dabei nehmen sie eine Traditionslinie wirtschaftssoziologischer Forschung auf, die bereits bei Georg Simmel begonnen hat. Geld ist nicht einfach ein monetärer „Schleier“ über den Transaktionen, wie es die Wirtschaftstheorie annimmt, wenn sie den Wirtschaftsprozess als reinen Gütertausch konzipiert. Geld hat als universales Medium des sozialen Zugangs und Sinnbild der Handlungsfreiheit in der kapitalistischen Gesellschaft eine besondere symbolische Bedeutung. Im Geld verselbständigt sich der ökonomische Wert und wird vielfachen sozialen Deutungsprozessen unterworfen, durch deren Analyse ein tieferes Verständnis der kalkulativen Praktiken wirtschaftlicher Akteure möglich wird. Dies zeigen auch Viviana Zelizers Arbeiten zur unterschiedlichen Deutung von Geldbeträgen nach ihrer Herkunft bzw. ihrem Verwendungszweck. Deutschmann zeigt darüber hinaus, dass die Frage des Geldes eine der wichtigsten Verbindungslinien zwischen der Wirtschaftssoziologie und einer größeren Theorie kapitalistischer Entwicklung bildet.
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