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Atypische Beschäftigung

Definition: Was ist "Atypische Beschäftigung"?

Die Expansion atypischer Beschäftigungsverhältnisse geht nicht nur in Deutschland einher mit einem Bedeutungsverlust von Normalarbeitsverhältnissen. Erheblichen Flexibilisierungsvorteilen der Unternehmen und zusätzlichen Erwerbschancen bestimmter Arbeitnehmer(-gruppen) stehen soziale bzw. Prekaritätsrisiken der betroffenen Beschäftigten gegenüber. Da die sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich nach wie vor auf eine kontinuierliche und hinreichend entlohnte Vollzeiterwerbstätigkeit ausgerichtet sind, besteht die Gefahr, dass deren Finanzierungsbasis zunehmend erodiert und individuelle Ansprüche unzureichend bleiben. Letzteres gilt aufgrund des Äquivalenzprinzips insbes. für das System der Alterssicherung. Die Langfristkonsequenzen atypischer Beschäftigungsverhältnisse werden in der derzeitigen Diskussion noch weitgehend ausgeblendet.

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Das Original: Gabler Wirtschaftslexikon

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    Inhaltsverzeichnis

    1. Definition und Abgrenzung zu Normalarbeitsverhältnissen
    2. Entwicklung, Formen und Umfang
      1. Teilzeitbeschäftigung
      2. Geringfügige Beschäftigung
      3. Midi-Jobs
      4. Leiharbeitsverhältnisse
      5. Befristete Beschäftigungsverhältnisse (ohne Auszubildende)
      6. Selbstständigkeit ohne Mitarbeiter
    3. Strukturmerkmale
      1. Soziodemographische Struktur
      2. Profile:
    4. Atypische Beschäftigungsformen und Prekaritätsrisiken 
      1. Abgrenzungen und Kriterien zur Messung von Prekarität
      2. Prekaritätsrisiken
    5.  Langfristfolgen und Handlungsbedarf

    Definition und Abgrenzung zu Normalarbeitsverhältnissen

    Normalarbeitsverhältnisse sind definiert als unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnisse, die vollständig in die sozialen Sicherungssysteme integriert sind, eine Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis aufweisen, d.h. nicht in Form von Leiharbeit ausgeübt werden, und bei denen eine Gebundenheit des Arbeitnehmers an Weisungen des Arbeitgebers besteht. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind negativ von der Definition des Normalarbeitsverhältnisses abzugrenzen und umfassen mehrere Formen. In der arbeits- und sozialpolitischen Diskussion wird diese Pluralisierung bzw. Differenzierung der Beschäftigungsverhältnisse nach wie vor kontrovers diskutiert: Erheblichen Flexibilisierungsvorteilen der Unternehmen und zusätzlichen Erwerbschancen bestimmter Arbeitnehmer(-gruppen) stehen deutliche soziale bzw. Prekaritätsrisiken der betroffenen Beschäftigten gegenüber, die langfristig auch die sozialen Sicherungssysteme belasten werden und die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes einschränken können.

    Entwicklung, Formen und Umfang

    In den letzten Jahrzehnten haben atypische Beschäftigungsverhältnisse erheblich zugenommen. Sie sind in Deutschland kräftiger gewachsen als in den meisten anderen Ländern der westlichen Welt. Inzwischen entfällt deutlich mehr als ein Drittel der abhängigen Erwerbstätigkeit auf diese Formen (vgl. Tabelle 1), die im Prozess der Tertiarisierung der Wirtschaft (sektoraler Strukturwandel) weiter an Bedeutung gewinnen werden. Atypische Erwerbsformen stellen den zunehmenden Ausnahmefall, Normalarbeitsverhältnisse hingegen den abnehmenden Regelfall dar. V.a. nach Einführung der Hartz-Gesetze ab dem Jahr 2003 wuchsen die geringfügige Beschäftigung (§§ 8 und 8a SGB IV), Midi-Jobs (Midi-Job) sowie die Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung) sprunghaft an. Gleichzeitig nehmen im Zuge der umfassenden Arbeitsmarktreformen nicht zuletzt durch die verstärkte Aktivierung von Arbeitslosen die Arbeitslosigkeit und Nicht-Erwerbstätigkeit ab, die gesamte Erwerbstätigkeit hingegen zu. Diese positive Entwicklung ist insbesondere seit dem Jahr 2005 evident.  

    Im Folgenden nicht berücksichtigt werden u.a. Lehrlinge, Praktikanten, Beschäftigte mit Werkverträgen oder sog. Ein-Euro-Jobs (Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung; vgl. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach SGB II). Sowohl das Ausgangsniveau als auch die Entwicklungsdynamik der verschiedenen Formen atypischer Beschäftigungsverhältnisse unterscheiden sich deutlich (vgl. Tabelle 1):

    Teilzeitbeschäftigung

    Teilzeitarbeit mit weniger als 35 Wochen stunden ist mit mehr als einem Viertel (27 Prozent) aller rund 35,5 Mio. abhängigen Beschäftigungsverhältnisse die am weitesten verbreitete Form. Ihr säkularer Anstieg auf fast zehn Mio. hängt mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen, unzureichenden Betreuungseinrichtungen für Kinder sowie der Expansion des Dienstleistungssektors zusammen. Mehr als 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten sind Frauen (Feminisierung des Arbeitsmarktes).

    Geringfügige Beschäftigung

    Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse haben nach ihrer Neuregelung zu Mini-Jobs im Rahmen der Hartz-Gesetze auf mehr als 20 Prozent (weit über sieben Mio.) zugenommen und stellen die zweithäufigste Form dar (Mini-Job). Explizit zu unterscheiden ist zwischen ausschließlich ausgeübten Mini-Jobs und Mini-Jobs als Nebenerwerbstätigkeiten, wobei auf die zweite Gruppe etwa 35 Prozent entfallen. Die Einkommen betragen monatlich max. 450 Euro; eine Begrenzung der Arbeitszeit besteht nicht.

    Midi-Jobs

    Diese, durch die Hartz-Gesetze eingeführten Beschäftigungsverhältnisse umfassen Einkommen in der „Gleitzone“ zwischen 450,01 und 850 Euro. Nach einer deutlichen Expansion üben sie knapp vier Prozent der abhängig Beschäftigten (fast 1,4 Mio.) aus.

    Leiharbeitsverhältnisse

    Leiharbeit hat vor allem seit ihrer weitgehenden Deregulierung durch die Hartz-Gesetze die höchsten Zuwachsraten zu verzeichnen und umfasst aktuell weniger als drei Prozent der Gesamtbeschäftigung (ca. 900.000). Leiharbeit ist die Beschäftigungsform, die – neben befristeteten Arbeitsverträgen (befristeter Arbeitsvertrag) – am stärksten konjunkturellen Schwankungen (prozyklisch) unterliegt, wie zuletzt ihr Einbruch in der Finanzkrise 2008/2009 gezeigt hat.

    Befristete Beschäftigungsverhältnisse (ohne Auszubildende)

    Befristungen von Arbeitsverträgen haben allmählich auf ca. neun Prozent (über drei Mio.) zugenommen. Diese Quote ist relativ gering; allerdings werden inzwischen fast die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge (45 Prozent) zunächst nur befristet abgeschlossen.

    Selbstständigkeit ohne Mitarbeiter

    Der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen stieg auf ca. elf Prozent (ca. 4,3 Mio.); diese Entwicklung wurde in den 2000er-Jahren durch verschiedene arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gefördert. Sie basiert ausschließlich auf der Zunahme der Solo-Selbstständigen, d.h. solchen ohne Mitarbeiter. Diese machen inzwischen mehr als die Hälfte aller Selbstständigen aus (rund 60 Prozent). Formal gehören sie zwar nicht zu den atypisch Beschäftigten, sollten aber wegen ihrer häufig nur geringen Einkommen und unsicheren wirtschaftlichen Perspektiven in die Betrachtung einbezogen werden.

    Strukturmerkmale

    Soziodemographische Struktur

    In sämtlichen Formen (mit Ausnahme der Leiharbeit) sind Frauen überrepräsentiert, sodass die Probleme atypischer Beschäftigung eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Dimension aufweisen. 55 Prozent aller Frauen arbeiten atypisch, bei den Männern sind es nur 16 Prozent. Beim Familienstand sind Alleinerziehende häufiger betroffen. Bezogen auf das Ausbildungsniveau sind Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung überproportional vertreten. Obwohl die Mehrheit der atypisch Beschäftigten über einen Berufsabschluss verfügt, arbeitet mehr als die Hälfte unter ihrem Ausbildungsniveau. Zudem ist das Vorliegen eines hohen Bildungsniveaus (Fachhochschul- bzw. Hochschulabschluss) bei befristet Vollzeitbeschäftigten häufiger anzutreffen als bei Personen in Normalarbeitsverhältnissen, bei denen der Anteil von Personen mit Berufsabschluss höher ist. Hinsichtlich des Alters sind jüngere Arbeitnehmer (15-24 Jahre) überrepräsentiert. Ausländer (v.a. aus Nicht-EU-Mitgliedsländern) arbeiten häufiger in atypischer Beschäftigung als Deutsche. Zudem sind atypische Beschäftigungsformen im Dienstleistungsbereich besonders weit verbreitet, Leiharbeit hingegen im Verarbeitenden Gewerbe; Einsatzschwerpunkte liegen im Gastgewerbe, Handel, im Gesundheitswesen, Grundstücks- und Wohnungswesen, im Baugewerbe sowie in Erziehung und Unterricht. Teilweise handelt es sich um Sektoren mit niedrigem Lohnniveau. Weiterhin sinkt der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse mit steigender Betriebsgröße.

    Profile:

    Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten in den Strukturmustern weisen die verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung spezifische Profile auf. Gut die Hälfte der Midi-Jobber sind Studierende und Rentner, bei den Mini-Jobbern sind es knapp 30 Prozent. Nur wenige jüngere Beschäftigte leisten Teilzeitarbeit, relativ viele dagegen Leiharbeit. Midi-Jobber arbeiten – im Unterschied zu den anderen Gruppen – relativ häufig im Verarbeitenden Gewerbe. Das Gastgewerbe wiederum beschäftigt überproportional viele Mini- und Midi-Jobber. Während der Einsatz von Leiharbeit vorrangig in Mittel- und Großbetrieben erfolgt, setzen kleine und mittlere Betriebe eher geringfügig Beschäftigte ein. Außerdem gehen Kleinstbetriebe mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen zurückhaltender um als größere Betriebe.

    Atypische Beschäftigungsformen und Prekaritätsrisiken 

    Abgrenzungen und Kriterien zur Messung von Prekarität

    Empirische Studien zeigen, dass atypisch Beschäftigte wesentlich häufiger und meistens auch höheren sozialen Risiken ausgesetzt sind als Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen. In der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion werden die Begriffe atypische und prekäre Beschäftigung häufig synonym gebraucht. Atypische und prekäre Beschäftigung ist aber nicht das Gleiche. Tatsächlich schwankt der Grad der Prekarität sowohl zwischen den Formen atypischer Beschäftigung als auch nach den verwandten Kriterien der Prekarität und den formulierten bzw. gesetzten Grenzwerten. Prekärität kann grundsätzlich auch NAV erfassen (Bsp. Niedriglohnbezieher; vgl. Niedriglohnsektor). 

    Zudem sind von beiden Seiten des Arbeitsmarktes gewünschte und somit freiwillig eingegangene Formen atypischer Beschäftigung von deren unfreiwilligen Varianten zu unterscheiden. Nur letztere werden vielfach als gesellschaftspolitisch ungewollt deklariert. Die notwendige Abgrenzung sollte in jedem Fall sowohl kurz-, als auch mittel- und die in der aktuellen Diskussion meist vernachlässigten langfristigen Risiken berücksichtigen. Damit sind sowohl solche gemeint, die während, als auch solche, die nach der Phase der Erwerbstätigkeit Prekarität verursachen (können).

    Identifizieren und Messen lässt sich Prekarität grundsätzlich anhand von vier Kriterien:

    a) Subsistenzsicherndes Einkommen (Existenzminimum): Um die bisher vor allem aus den angelsächsischen Ländern bekannte Working-Poor-Problematik (Armut in bzw. trotz Arbeit) zu vermeiden, sollte das Lohneinkommen – gemäß international akzeptierter Konvention – mindestens zwei Drittel des Medianlohns betragen.

    b) Beschäftigungsstabilität: Atypische Beschäftigung sollte immer auch die Option auf eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit beinhalten, um nicht als prekär zu gelten. Diese Kontinuität kann sowohl auf dem betriebsinternen, berufsfachlichen als schließlich auch auf dem externen Arbeitsmarkt erreicht werden (Segmentationstheorien; vgl. Arbeitsmarkttheorien). Sie ist weiter gefasst als Arbeitsplatzstabilität und sollte idealerweise mit einer Übertrittsoption in ein NAV ausgestattet sein.

    c) Beschäftigungsfähigkeit: Um Zugang zum NAV zu erhalten, ist i.d.R. ein Berufsabschluss Voraussetzung. Über diesen verfügt die Mehrheit der atypisch Beschäftigten. Um die geforderte Eigenverantwortlichkeit umzusetzen, sind jedoch auch der Zugang zu überbetrieblicher und betrieblich-beruflicher Weiterbildung sowie Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit (Gesundheitsförderung) notwendig. Nur damit lässt sich ein "Teufelskreis" bzw. der "Drehtüreffekt" zwischen atypischer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Nicht-Erwerbstätigkeit, prekären Arbeitsverhältnissen und erneuter Arbeits- oder Erwerbslosigkeit etc. vermeiden bzw. durchbrechen. ist der Zugang zu sicherzustellen.

    d) Vollständige Integration in die sozialen Sicherungssysteme: Die Integration in die sozialen Sicherungssysteme sollte möglichst umfassend sein. Zur Vermeidung von Altersarmut sind hinreichend hohe Beitragszahlungen v.a. in die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) unumgänglich.

    Prekaritätsrisiken

    a) Kurzfristige Risiken:Beim Einkommen bestehen für alle Formen atypischer Beschäftigung erhöhte Prekaritätsrisiken, die bei Mini-Jobbern und Leiharbeitnehmern besonders ausgeprägt sind. Für Letztere ist die Wahrscheinlichkeit, nur einen Niedrig- bzw. Prekaritätslohn (auf Stundenlohnbasis) zu erhalten, aufgrund der Beschäftigungsform bei ansonsten gleichen Merkmalen (wie Qualifikation, Alter, Geschlecht) mehr als viermal (Frauen) bzw. mehr als sechsmal (Männer) höher als bei Beschäftigten mit Normalarbeitsverhältnissen. Ein noch höheres Prekaritätsrisiko tragen Mini-Jobber. Für Teilzeitbeschäftigte ist das Risiko, lediglich einen Prekaritätslohn zu erhalten, jedoch nur unwesentlich größer als bei Normalbeschäftigten. Im Niedriglohnsektor, der bereits mehr als 20 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in Deutschland umfasst, befinden sich überwiegend atypisch Beschäftigte. Die Hälfte von ihnen bezieht einen Niedriglohn, beim NAV sind es nur knapp 11 Prozent. Seine auch im internationalen Vergleich überproportionale Ausweitung seit den 2000er-Jahren ist wesentlich auf die Expansion atypischer Beschäftigung zurückzuführen. Über 70 Prozent der Mini-Jobber verdienten bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns weniger als 8,50 Euro pro Stunde, fast 40 Prozent der Midi-Jobber arbeiteten Vollzeit.

    b) Mittelfristige Risiken: Weitere Nachteile bei sämtlichen Formen atypischer Beschäftigung (mit Ausnahme der längeren bzw. unbefristeten Teilzeitarbeit) ergeben sich bei der Beschäftigungsstabilität. Hierbei leiden Leiharbeitnehmer besonders unter der geringen bzw. häufig unterbrochenen Beschäftigungsdauer. Für sie ist die Wahrscheinlichkeit, nach einem Jahr Beschäftigung den Arbeitsplatz zu verlieren, mehr als dreimal so hoch wie bei einer vergleichbaren Arbeitskraft in einem Normalarbeitsverhältnis. Etwa die Hälfte aller Leiharbeitsverhältnisse dauert weniger als drei Monate. Neueinstellungen erfolgen häufig befristet, sodass v.a. jüngere Arbeitnehmer überproportional stark betroffen sind. Wesentlich zur Beurteilung sind die Übergangsquoten in Normalarbeitsverhältnisse, die mit zunehmendem Qualifikationsniveau steigen.

    Zusätzliche Nachteile atypisch Beschäftigter ergeben sich infolge der eingeschränkten Teilnahme an betrieblich-beruflicher Weiterbildung zur Sicherung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit. Diese Benachteiligung lässt sich kaum durch eigeninitiierte Weiterbildungsaktivitäten der Beschäftigten ausgleichen. Zum einen schränkt die hohe Beschäftigungsinstabilität den Zugang zum Lernort Betrieb ein, zum anderen fehlen aufgrund der niedrigeren Einkommen die finanziellen Ressourcen zur eigenverantwortlichen Organisation. Dadurch fällt es schwer, aus eigener Kraft aus prekären Beschäftigungsverhältnissen herauszukommen. Gesamtwirtschaftlich droht eine Unterinvestition in Humankapital, die aufgrund des demographischen Wandels besonders problematisch ist und wachstumshemmend wirkt (Humankapitaltheorien, Arbeitsmarkttheorien).

    c) Langfristige Risiken: Die Integration in die sozialen Sicherungssysteme (v.a. in die gesetzliche Renten­versicherung) ist sowohl infolge der geringeren Beiträge als auch der häufigeren Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit (u.a. durch Arbeitslosigkeit) deutlich eingeschränkt. Mittel- und langfristig wird das Risiko von Altersarmut (v.a. bei Mini- und Midi-Jobbern) wieder auf der arbeits- und sozialpolitischen Agenda stehen. Die politisch geplanten weiteren Absenkungen des Rentenniveaus verstärken die durch die Ausweitung atypischer Beschäftigung verursachten Prekaritätsprobleme. Bedroht sind v.a. Frauen, die mehrfachen Prekaritätsrisiken ausgesetzt sind. Sie arbeiten überwiegend in Niedriglohnbranchen des Dienstleistungssektors und außerdem in atypischen Beschäftigungsformen mit Benachteiligungen bei der beruflichen Weiterbildung.

     Langfristfolgen und Handlungsbedarf

    Die Prekaritätsrisiken, die bei bestimmten Personen- bzw. Problemgruppen am Arbeitsmarkt (z.B. Frauen, Ausländer, Ältere) häufig kumulativ auftreten, sind gravierend, weil atypische Beschäftigung oft kein reines Übergangsphänomen in den individuellen Erwerbsbiographien darstellt. Aufwärtsmobilität (im Sinne eines Übergangs in Normalarbeitsverhältnisse) findet nur in begrenztem Maße statt; häufiger sind Wechsel zwischen verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung (Klebeeffekt) sowie wiederholte Phasen der Arbeitslosigkeit (Prekaritätsfalle). Von der bei der Reform der Arbeitsmarktstrukturen (Hartz-Gesetze) vielfach erwarteten „Sprungbrett“- oder „Brückenfunktion“ im Sinne eines Übergangs von atypischen in Normalarbeitsverhältnisse kann in empirischer Perspektive kaum die Rede sein. Analysen zeigen eher eine starke Pfadabhängigkeit. Kommt es zu Beendigungen von Arbeitsverhältnissen, münden Beschäftigte aus Normalarbeitsverhältnissen eher wieder in solche, atypisch Beschäftigte eher wieder in derartige Beschäftigungsformen (Segmentationstheorien; vgl. Arbeitsmarkttheorien). Für die erste Gruppe ist nach beendeten Beschäftigungsverhältnissen auch das Risiko, arbeitslos zu werden bzw. zu bleiben, wesentlich geringer als für Beschäftigte der zweiten Gruppe. Die geringe Statusmobilität verstärkt die Prekaritätsrisiken mit zunehmender Zeitdauer.

    Die in der politischen und wissenschaftlichen Debatte häufig unbeachteten langfristigen Folgen reichen über die Phase der Erwerbstätigkeit hinaus in die des Ruhestands hinein. Da das System der Alterssicherung nach wie vor auf kontinuierlichen Erwerbskarrieren in Normalarbeitsverhältnissen basiert, erreichen die individuell erworbenen Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen häufig kein subsistenzsicherndes Niveau, sodass ergänzende Sozialleistungen notwendig werden (Grundsicherung im Alter). Diese müssen aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden. Im Übrigen ist auch der Zugang zu Systemen betrieblicher Altersvorsorge infolge durchschnittlich relativ kurzer Beschäftigungszeiten erheblich eingeschränkt. Schließlich verhindern die niedrigen Einkommen eine freiwillige Eigenvorsorge. Diese resultieren nicht selten aus einer geringeren als die gewünschte Arbeitszeit. Angesichts dieser Bedingungen ist eine allein auf vermehrte Eigenverantwortung setzende Politik kaum geeignet, die aufgezeigten Problemsituationen zu beseitigen.

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