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Umsatzsteuerharmonisierung

Definition: Was ist "Umsatzsteuerharmonisierung"?

Die Angleichung der Umsatzsteuergesetze in der EU durch zentrale Vorgaben der EU in Form von EG-Richtlinien. Wichtigste Rechtsquelle: Mehrwertsteuersystemrichtlinie von 2006 (Zusammenfassung aller bis dahin ergangenen Richtlinien der EU in einem einheitlichen, übersichtlich gestalteten neuen Rechtstext, Nachfolgeregelung zur bis dahin gültigen, aber durch ständige Änderungen unübersichtlich gewordenen „6. EG-Richtlinie über die Umsatzsteuern“ von 1977).

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    1. Begriff: die Angleichung der Umsatzsteuergesetze in der EU.

    2. Rechtsgrundlage: Art. 93 EG-Vertrag räumt der EU ausdrücklich die Befugnis ein, die Umsatzsteuergesetze und die Gesetze über andere indirekte Steuern zu harmonisieren, soweit dies für das Funktionieren des Binnenmarktes notwendig erscheint. Entsprechende Richtlinien zur Umsatzsteuerharmonisierung werden demnach vom Ministerrat der EU beschlossen; der Rat darf jedoch nur über Vorschläge beschließen, die die Europäische Kommission (EU-Kommission) ihm offiziell zur Beschlussfassung vorgelegt hat, kann also nicht aus eigener Initiative heraus handeln. Die Zustimmung im Rat (zuständig: die Wirtschafts- und Finanzminister, der sog. „ECOFIN“-Rat) muss einstimmig erfolgen, also mit den Stimmen aller gegenwärtig 27 Mitgliedsstaaten der EU. Das Europäische Parlament hat im Vorfeld der Entscheidungen bislang lediglich ein Anhörungsrecht.

    3. Notwendigkeit: Eine vollständige Harmonisierung der gesamten umsatzsteuerlichen Bestimmungen (Vollharmonisierung) ist vom EG-Vertrag nicht zugelassen; der Vertrag erlaubt eine Harmonisierung nur dort, wo eine Angleichung geboten erscheint. Da jedoch aufgrund des Bestimmungslandprinzips Umsätze eines dt. Unternehmers auch in einem anderen Land als Deutschland der Besteuerung unterliegen können (und umgekehrt bestimmte Umsätze eines ausländischen Unternehmers evtl. nicht in seinem Heimatland, sondern in Deutschland zu versteuern sind), müssen Unternehmer nicht nur die Regelungen des heimatlichen Umsatzsteuerrechts, sondern auch die Umsatzsteuerregelungen anderer Staaten kennen.  Dies ist nicht zu schaffen, wenn nicht die wesentlichen Strukturen der Gesetze in allen betroffenen Ländern angeglichen sind.

    4. Historische Entwicklung: Die Umsatzsteuerharmonisierung in der EU begann mit der Entscheidung (1. umsatzsteuerliche Richtlinie, 1967), in allen Staaten der EU ein Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug einzuführen und somit die bis dahin üblichen pauschalierten Umsatzsteuererstattungen bei der Ausfuhr entbehrlich zu machen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung zeigte sich dann aber rasch, dass mit zunehmendem Abbau von Handelshindernissen immer weitere Teilaspekte der Umsatzsteuergesetzgebung als „Bremse“ für die weitere wirtschaftliche Integration zu wirken begannen. So wurde, gefördert auch durch die Entscheidung der EU, das Mehrwertsteueraufkommen der Mitgliedsstaaten zu einer der Grundlagen der Beitragszahlung der EU-Mitgliedsländer zu machen, sehr rasch der Schritt getan hin zu einer fast vollständigen Angleichung der Regeln über den Steuertatbestand, die Steuerbefreiungen, die Bemessungsgrundlage und die Steuersätze und viele sonstige Modalitäten der Umsatzsteuer (6. Richtlinie, 1977, mit ständigen späteren Änderungen). Nachdem somit die Inhalte der Steuer bis auf wenige politisch sensible Fragenbereiche weitgehend angeglichen waren (z.B. sind die Steuersätze auch heute noch weitgehend frei wählbar), entpuppten sich im weiteren Verlauf der wirtschaftlichen Integration schließlich dann auch die Komplexität der umsatzsteuerlichen Regelungen und die vielen Unterschiede in den Verwaltungsformalitäten in den einzelnen Ländern zunehmend als Problem für die Praxis.  Aus diesem Grund konzentrierten sich die weiteren Bemühungen zur Umsatzsteuerharmonisierung in den letzten Jahren auf die Erstellung einfacher lesbarer Rechtstexte im Gemeinschaftsrecht (v.a.: Zusammenfassung aller wesentlichen bisherigen Umsatzsteuerrichtlinien der EU in einer übersichtlichen, gut lesbaren Neufassung im Jahr 2006, „Mehrwertsteuersystemrichtlinie“) und auf Bemühungen, die Schwierigkeiten durch den Kontakt mit für den Unternehmer fremden Steuerbehörden bei ausländischen Umsätzen weiter zu reduzieren. Auf letzterem Gebiet ist auch in Zukunft der Schwerpunkt der weiteren Arbeiten zur Harmonisierung zu vermuten; eine weitere Angleichung in materieller Hinsicht, z.B. in Hinblick auf die weitere Angleichung der Umsatzsteuersätze oder die Vereinheitlichung der letzten noch verbliebenen Steuerbefreiungen, ist dagegen eher unwahrscheinlich. Auch die EU-weite Einführung der neuen Kategorie der „innergemeinschaftlichen Dienstleistungen“ ins Umsatzsteuerrecht aller Mitgliedsstaaten ab 2010 stellt sich nicht als Neugestaltung in der Sache, sondern hauptsächlich als Verbesserung und Vereinfachung der verwaltungstechnischen Abläufe bei bislang schon existierenden Regelungen dar; dasselbe gilt auch für die ebenfalls ab 2010 einzuführenden Reformen beim Vorsteuervergütungsverfahren und den Abgabemodalitäten für die zusammenfassende Meldung.

    5. Konsequenzen für die Anwendung und Auslegung dt. Umsatzsteuerrechts: Die Verpflichtung, bei der Ausgestaltung der Umsatzsteuergesetze den Vorgaben der EU zu folgen, verpflichtet dazu, auch bei der Anwendung der gesetzlichen Regelungen anschließend den von der EU vorgegebenen Rahmen nicht zu verlassen. Denn es wäre sinnlos, wenn die Gesetzestext zwar vereinheitlicht, anschließend aber trotzdem von jedem Mitgliedsstaat weiterhin unterschiedlich ausgelegt und angewandt werden könnten. Aus diesem Grund muss bei der Frage danach, was der Gesetzgeber mit bestimmten Formulierungen im Gesetz anordnen wollte (Auslegung des Gesetzes), auch danach gefragt werden, was der Gesetzesgeber zu dieser Sachfrage nach den Vorgaben der EU denn anzuordnen verpflichtet war. Es ist also in Zweifelsfällen davon auszugehen, dass der Gesetzgeber genau das anordnen wollte, was er nach den europäischen Vorgaben auch anordnen musste (richtlinienkonforme Auslegung des Umsatzsteuergesetzes). Ist im Einzelfall auch unklar, was die europäischen Vorgaben zu einem bestimmten Problem anordnen, muss deshalb vorab durch Anfrage am Europäischen Gerichtshof geklärt werden, wie die europarechtlichen Vorgaben in Hinblick auf den Fall richtig zu verstehen sind (Vorabentscheidungsersuchen).

    6. Beurteilung des erreichten Zustands: Aufgrund der bislang erreichten, sehr hohen Regelungsdichte ist die Umsatzsteuerharmonisierung bislang unter den wirtschaftlich wichtigen Steuerarten diejenige Steuerart, bei der die Zentralisierung der Gesetzgebung in der EU am weitesten fortgeschritten ist; eine autonome nationale Gesetzgebung ist hier den Mitgliedsstaaten kaum noch möglich und höchstens noch auf isolierte Detailfragen beschränkt. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass in der Praxis die Unternehmen durch die verbleibenden Unterschiede in der nationalen Gesetzgebung oft genug vor entweder unüberwindliche oder aber sehr kostspielige Hindernisse gestellt werden (einfache Anfragen nach der richtigen Versteuerung eines Umsatzes in einem anderen Land können z.B. ohne Weiteres Beratungskosten in Höhe von mehreren 100 Euro verursachen, wenn es denn überhaupt gelingt, im anderen Land einen Berater zu finden, mit dem der ratsuchende Unternehmer sich sprachlich überhaupt in einer gemeinsamen Sprache verständigen kann). Die bisher schon erreichte Intensität der Harmonisierung im Bereich der Umsatzsteuer ist also offenbar keineswegs zu weit gehend, sondern scheint von den Sachzwängen her geboten.

    Vgl. auch Umsatzsteuer.

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