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Daseinsvorsorge

Definition: Was ist "Daseinsvorsorge"?

Daseinsvorsorge umfasst die Sicherung des öffentlichen Zugangs zu existentiellen Gütern und Leistungen entsprechend der Bedürfnisse der Bürger, orientiert an definierten qualitativen Standards und zu sozial verträglichen Preisen. Welche Güter und Leistungen als existentiell notwendig anzusehen sind, ist durch die politische Ebene zeitbezogen zu ermitteln. Diese sind festzuschreiben und mit qualitativen Mindeststandards zu unterlegen. In einen allgemeinen Kanon dieser existentiellen Leistungen gehören Energieversorgung, Post, Telekommunikation, Verkehr, Wohnungswirtschaft, Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Bildung, Gesundheit und öffentliche Sicherheit.

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Das Original: Gabler Wirtschaftslexikon

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    Inhaltsverzeichnis

    1. Kurzerklärung und ein wirtschaftsgeschichtlicher Exkurs
    2. Zur staatlichen Daseinsvorsorgeverantwortung
    3. Verantwortung, Aufgabenträgerschaft, Leistungserbringung und deren Primat gegenüber     der Wirtschaftlichkeit
    4. Daseinsvorsorgeinfrastrukturen
    5. Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft
    6. Zum Erfordernis eines dynamischen Begriffsverständnisses
    7. Kanon der Daseinsvorsorge, selektiert nach Sektoren und nach hoheitlicher und wirtschaftlicher Leistungserbringung
    8. Perspektiven

    Kurzerklärung und ein wirtschaftsgeschichtlicher Exkurs

    Daseinsvorsorge umfasst die Sicherung des öffentlichen Zugangs zu existentiellen Gütern und Leistungen entsprechend der Bedürfnisse der Bürger, orientiert an definierten qualitativen Standards und zu sozial verträglichen Preisen. Welche Güter und Leistungen als existentiell notwendig anzusehen sind, ist durch die politische Ebene zeitbezogen zu ermitteln. Diese sind festzuschreiben und mit qualitativen Mindeststandards zu unterlegen. In einen allgemeinen Kanon dieser existentiellen Leistungen gehören Energieversorgung, Post, Telekommunikation, Verkehr, Wohnungswirtschaft, Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Bildung, Gesundheit und öffentliche Sicherheit (siehe Linke, 2011, S. 80).

    Der Beginn der modernen Daseinsvorsorge in den auch heute noch relevanten Grundformen und    -strukturen ist für Deutschland auf Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts zu datieren.

    Für ein grundlegendes Verständnis ist wichtig, dass Daseinsvorsorge bereits am Beginn der menschlichen Existenz das zentrale Ziel und der zentrale Bestandteil der bewussten Auseinandersetzung mit der Umwelt war. In diesen ursprünglichen Formen der Ökonomie ist die Daseinsvorsorge Ziel und zugleich originärer Gegenstand der Arbeit. Auch wenn sich bereits in der Urgesellschaft erste Formen einer natürlichen Arbeitsteilung – etwa die zwischen den Geschlechtern oder zwischen Kindern, Erwachsenen und Alten – herausbildeten, so prägte doch das Ziel Daseinsvorsorge alle Facetten der Leistungserbringung unmittelbar. Die Arbeit war nie Mittel zum Zweck, sondern sie selbst und somit ihre Ergebnisse waren direkte und unmittelbare Daseinsvorsorge. Das, was unmittelbar produziert wurde, etwa die Nahrungsmittel, eignete sich der Produzent auch unmittelbar an, indem er es konsumierte. Die klassische Nationalökonomie hat dafür den Begriff „ursprüngliche Akkumulation“ geprägt. Diese ist hinsichtlich ihrer Ziele eine reine Daseinsvorsorgeökonomie.

    Das eingangs erwähnte moderne Begriffsverständnis hat seine objektive Grundlage in der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt war das Gros der Menschen – in erster Linie jene, die sich als Lohnarbeiter in den komplizierten arbeitsteiligen Prozess der Wertschöpfung eingliedern mussten – nicht mehr in der Lage, für ihre elementaren Existenzbedingungen selbst zu sorgen. Ernst Forsthoff, der Begründer unseres heutigen Daseinsvorsorgeverständnisses („Die Verwaltung als Leistungsträger“, Kohlhammer, Stuttgart, 1938) hat diese an die kapitalistische Produktionsweise geknüpfte Entwicklung wie folgt beschrieben: „Mit der Schrumpfung des individuell beherrschten Lebensraumes hat der Mensch die Verfügung über wesentliche Mittel der Daseinsstabilisierung verloren. Er schöpft das Wasser nicht mehr aus dem eigenen Brunnen, er verzehrt nicht mehr die selbstgezogenen Nahrungsmittel, er schlägt kein Holz mehr im eigenen Wald für Wärme und Feuerung. Im Ablauf der Dinge ist hier eine eindeutige Entscheidung gefallen, wenigstens im Bereich der deutschen Staatlichkeit: dem Staat (im weitesten Sinne des Wortes) ist die Aufgabe und die Verantwortung zugefallen, alles das vorzukehren, was für die Daseinsermöglichung des modernen Menschen erforderlich ist. „Was in Erfüllung dieser Aufgabe notwendig ist, nenne ich Daseinsvorsorge.“ („Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“, 1958, S. 6)

    Zur staatlichen Daseinsvorsorgeverantwortung

    Aus der unstrittigen Verantwortung des Staates für die Daseinsvorsorge leitete Forsthoff 1958 die Forderung ab, dieser Verpflichtung Verfassungsrang zu geben. Das ist explizit nie umgesetzt worden. Allerdings finden sich im Grundgesetz zu ausgewählten Bereichen der Daseinsvorsorge Regelungen, in denen für diese Segmente Aufgaben und Verantwortungen definiert werden. Beispielhaft dafür stehen die Artikel 87e (Eisenbahnverkehrsverwaltung), 87f (Postwesen und Telekommunikation) oder Artikel 89 (Bundeswasserstraßen – Schifffahrtsverwaltung).

    Die staatliche Verantwortung ist in weiteren Gesetzen auf Bundesebene normiert. Das gilt ebenso für die zweite staatliche Ebene, die Länder einschließlich der Kommunen. Alle wesentlichen Teile der Daseinsvorsorge sind dort als staatliche Pflichtaufgaben definiert, bzw. werden den Kommunen als solche verbindlich übertragen (übertragener Wirkungskreis).

    Die Verantwortung des Staates für die Daseinsvorsorge umfasst generell die folgenden zwei Aspekte: Erstens die Verantwortung zur Erbringung der Leistungen. Zweitens die Verantwortung, die für diese Leistungserbringung nötigen Infrastrukturen vorzuhalten bzw. bei neuen Aufgaben, diese zu implementieren.

    Verantwortung, Aufgabenträgerschaft, Leistungserbringung und deren Primat gegenüber     der Wirtschaftlichkeit

    Aus der staatlichen Verantwortung für die Daseinsvorsorge leitet sich der Begriff der Aufgabenträgerschaft ab. Dieser darf – siehe Tabelle 2 – nicht synonym mit dem Begriff der staatlichen Zuständigkeit gebraucht werden.

    Aufgabenträger ist eine konkret definierte staatliche Ebene (Bund, Länder, Landkreise, kreisfreie Städte, kreisangehörige Städte und Gemeinden), die verbindlich dafür verantwortlich ist, dass eine Leistung der Daseinsvorsorge (das schließt die Bereitstellung der dazu nötigen Infrastruktur ausdrücklich ein) erbracht wird. Diese Aufgabenträgerschaft wiederum setzt für die meisten Bereiche der Daseinsvorsorge nicht zwingend voraus, dass diese Leistungen auch vom Aufgabenträger erbracht werden müssen. Praktisch keinerlei Einschränkungen gibt es im Bereich der wirtschaftlichen Leistungserbringung. Dort kann neben der Eigenerledigung auch jeder der Dritte Anbieter unabhängig von der Eigentumsform mit der Leistungserbringung – im Regelfall über Vergaben auf der Grundlage von Ausschreibungen – betraut werden.

    Für die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Aufgabenträgerschaft einerseits und Leistungserbringung andererseits findet sich eine analoge begriffliche Unterscheidung, nämlich jene zwischen Organisations- und Durchführungsverantwortung.

    Auch bei der hoheitlichen Leistungserbringung gibt es neben den Segmenten, bei denen die Identität von Aufgabenträgerschaft und Leistungserbringung zwingend ist – diese betreffen in erster Linie die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols (Polizei, Justiz usw.) – Bereiche, in denen Dritte mit der Leistungserbringung betraut werden können. Dort erfolgt die Vergabe analog zur rein wirtschaftlichen Leistungserbringung wettbewerblich (z.B. hoheitliche Entsorgung, Straßenreinigung).

    Ziel der Daseinsvorsorge ist die Befriedigung existentieller Bedürfnisse. Insofern hat die Erbringung dieser Daseinsvorsorgeleistungen unter allen Umständen das Primat gegenüber der Wirtschaftlichkeit. Das heißt, die Leistungen sind in jedem Fall zu erbringen, unabhängig davon, ob damit Erträge im betriebswirtschaftlichen Sinne generiert werden können.

    Der Begriff der Wirtschaftlichkeit hat eine doppelte Bedeutung: zum einen betrifft er die Ertragsrelevanz der zu erbringenden Leistung. Zum anderen definiert er das unbedingte Erfordernis zur Effizienz. Diese Prämisse gilt für alle Leistungen der Daseinsvorsorge, und zwar unabhängig davon, ob damit betriebswirtschaftliche Erträge generiert werden können.

    Dazu Ernst Forsthoff: „Daseinsvorsorge kann sich in der Wirtschaftlichkeit ihrer Durchführung nicht erschöpfen. Die Daseinsvorsorge ist wesentlich auch eine soziale Funktion. Es kommt nicht nur darauf an, dass sie dem Menschen unserer Tage zu ihrem Teil ihre daseinswichtigen Dienste leistet, sondern auch, unter welchen Bedingungen das geschieht. Hier sind dem Gewinnstreben Schranken gesetzt, die der Wirtschaft fremd sind, und es müssen auch Risiken eingegangen, Wechsel auf die Zukunft gezogen werden, zu denen sich die Wirtschaft nicht veranlasst sehen würde. („Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“, 1958), S. 13).

    Neben der sozialen Funktion der Daseinsvorsorge gibt es einen weiteren wesentlichen Grund dafür, die Leistungserbringung nicht zwingend an die Generierung von Erträgen zu knüpfen. Denn diese Ertragsrelevanz ist keine Konstante, sondern eine Variable. So können Telekommunikationsleistungen in Ballungszentren praktisch ausnahmslos gewinnbringend realisiert werden. In diesen Regionen funktionieren Markt und Wettbewerb. Das aber gilt nicht für strukturschwache, dünn besiedelte Regionen. Dort können Leistungen wie hier beispielhaft in der Telekommunikation nur mit Verlust erbracht werden, was regelmäßig dazu führt, dass es keine Anbieter aus der Privatwirtschaft gibt, bzw. nur dann, wenn der Staat den Verlustausgleich vornimmt und für Investitionen in die Daseinsvorsorge – Implementierung der Daseinsvorsorge-Infrastrukturen und deren Betrieb – eine marktübliche Verzinsung garantiert.

    Für den gerade beschriebene Status einer nicht rentierlichen Leistungserbringung steht umgangssprachlich der Begriff des „Marktversagens“, der den Zustand in den meisten strukturschwachen Regionen Deutschlands zutreffend charakterisiert. Er betrifft dort nicht nur die Telekommunikation – hier in erster Linie die Breitbandversorgung als Voraussetzung für das sogenannte „schnelle Internet“ – sondern auch weitere Segmente der  Daseinsvorsorge wie z.B. den ÖPNV. Vergleichbare Entwicklungen – hier nicht im Sinne von komplettem Marktversagen, sondern im Sinne von Leistungseinschränkungen (niedrigere Standards für Umfang und Qualität der Leistungserbringung) – finden wir im hoheitlichen Bereich, etwa beim Brand- und Katastrophenschutz oder der öffentlichen Sicherheit.

    Leistungsart incl. InfrastrukturAufgabenträger

    Wirtschaftliche Leistungserbringung

    Telekommunikation und PostBund
    Verkehr (hier: Öffentlicher Personennahverkehr)Landkreise, kreisfreie Städte
    Gewerbliche Entsorgung / Kreislaufwirtschaft 

    Landkreise und kreisfreie Städte

    Gesundheit (Krankenhäuser, ambulante Versorgung, Vor- und Nachsorge, Pflege)

    Landkreise und kreisfreie Städte

    Wohnenalle kommunalen Gebietskörperschaften

    Hoheitliche Leistungserbringung

    BildungLänder, Landkreise und kreisfreie Städte
    Öffentliche Sicherheit

    Bund, Länder

    Hoheitliche Entsorgung (haushaltsnahe Abfälle, gefährliche Abfälle, Tierkörperbeseitigung

    Landkreise und kreisfreie Städte

    Straßenreinigungalle kommunalen Gebietskörperschaften

    Tabelle 1: Ausgewählte Aufgabenträgerschaften für Leistungen und Infrastrukturen nach staatlichen Ebenen

    Daseinsvorsorgeinfrastrukturen

    Zur Daseinsvorsorge, also der Erbringung der existentiellen Leistungen, gehört untrennbar die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen und Strukturen, die als materielle oder physische Grundlage zwingende Voraussetzung für diese Leistungserbringung sind. In ihrer Gesamtheit sprechen wir von den Daseinsvorsorgeinfrastrukturen.

    Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft

    Zentraler Gegenstand der Kommunalwirtschaft – dies betrifft auf jeden Fall ihre Kernbereiche – ist die Erbringung von Leistungen zur Daseinsvorsorge. Aus Gegenstand und Zielsetzung ergibt sich die  Nutzenstiftung als zentrale Kategorie. Dieser Nutzen kann dauerhaft und nachhaltig nur entstehen, wenn die Leistungen mit hoher Wirtschaftlichkeit erbracht werden. Gegenstand der kommunalwirtschaftlichen Betätigung sind in erster Linie die Versorgung mit Energie, die Versorgung mit Wasser, die Entsorgung von Abwasser und Müll, die Verwertung von Reststoffen, die Erbringung öffentlicher Verkehrsleistungen, die Erbringung von Gesundheitsleistungen, die Bereitstellung und Bewirtschaftung von Wohnraum, von öffentlich genutzten Flächen und Immobilien sowie die Bereitstellung von grundlegenden Leistungen der Kommunikation. Alle diese Leistungen sind Bestandteil der Daseinsvorsorge. Die Kommunalwirtschaft ist in diesem Bereich der wichtigste wirtschaftliche Erbringer dieser Leistungen. Beide Begriffe – Kommunalwirtschaft und Daseinsvorsorge – dürfen aber keinesfalls synonym verwendet werden. Das ergibt sich zusätzlich daraus, dass die Kommunalwirtschaft auch periphere Leistungen erbringt, die nicht zum Kanon der Daseinsvorsorge gehören. Dies sind beispielsweise Bereiche wie die Datenverarbeitung, der Garten- und Landschaftsbau, die Parkraumbewirtschaftung, der Betrieb von Kongresszentren oder die Wirtschaftsförderung.

    Die hoheitliche Leistungserbringung, so etwa Bildung und Kultur, sind vom Grundsatz her nicht  Gegenstand der kommunalwirtschaftlichen Betätigung. Es gibt aber die Tendenz, die Erbringung in kommunalwirtschaftliche Strukturen zu verlagern, in erster Linie mit dem Ziel, die Effizienz durch die Nutzung von Synergien zu erhöhen. Siehe auch den Schwerpuntbeitrag Kommunalwirtschaft.

    Zum Erfordernis eines dynamischen Begriffsverständnisses

    Der von Ernst Forsthoff im Jahre 1938 geprägte moderne Daseinsvorsorgebegriff schließt einen festen Kanon von Daseinsvorsorgeleistungen ein, der mehr oder minder kritiklos immer wieder fortgeschrieben wurde. Die Folge war ein eher statisches Verständnis von den Leistungen, die unter dem Begriff Daseinsvorsorge subsumiert werden. In den vergangenen Jahren hat sich aber in Wissenschaft und Politik durchgesetzt, den Kanon der Leistungen dynamisch zu betrachten. Denn es gibt das objektive Erfordernis, neue Bedürfnisse von Menschen dahingehend zu bewerten, ob diese eine existentielle Dimension haben und in diesem Fall in den bestehenden Kanon der Daseinsvorsorgeleistungen eingeordnet werden müssen. Exemplarisch dafür steht der flächendeckende Zugang zum sogenannten schnellen Internet. Der existentielle Status dieser Leistung ist inzwischen politisch unstrittig. Dazu kommen der Aspekt der Teilhabe in seiner sozialen Dimension, das gewerblich existentielle Erfordernis zum Austausch großer Datenmengen oder die notwendige Sicherung von gesundheitlicher Versorgung unter Nutzung der internetbasierten Methoden der Telemedizin. Aus dieser politischen und damit auch staatlichen Anerkennung der existentiellen Dimension der Breitbandversorgung folgt aber keinesfalls, dass diese Leistung entsprechend ihres Ranges auch erbracht wird. Hier wird der Zusammenhang deutlich zwischen der ordnungspolitischen Einordnung der Leistung einerseits, und der Notwendigkeit, für deren Erbringung auch die dazu nötigen Daseinsvorsorge-Infrastrukturen zu implementieren. Die Anerkennung der existentiellen Dimension ist aber die entscheidende Voraussetzung, staatliches Handeln zur Schaffung der Strukturen in Gang zu setzen. In der Konsequenz wurden zur Finanzierung der gewaltigen Investitionen Förderprogramme auf Ebene des Bundes und der Länder implementiert. Diese gewährleisten aber nicht die vollständige Finanzierung, was im Widerspruch zur definierten staatlichen Verantwortung für die existentielle Daseinsvorsorge steht.

    Für die Begriffsbestimmung ist im Fazit Folgendes zu unterscheiden. Die grundlegende Verantwortung des Staates zur Erbringung der Daseinsvorsorgeleistungen hat zunächst eine statische Dimension. Und zwar in dem Sinne, dass damit die Verantwortung des Staates normiert wird, sicherzustellen, dass diese Leistungen unter allen Umständen auch erbracht und die dazu notwendigen Daseinsvorsorge-Infrastrukturen bereitgestellt werden. Welche Leistungen aber in einen Kanon der Daseinsvorsorge eingeordnet werden müssen, kann nicht final festgelegt werden. Diese Frage muss vor allem in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umständen und technischen Entwicklungen immer wieder diskutiert und entschieden werden.

    Objektiv gibt es diesen Sachverhalt seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Der Kanon war immer dynamisch und flexibel, in Abhängigkeit etwa von geografischen und/oder klimatischen Bedingungen.

    Kanon der Daseinsvorsorge, selektiert nach Sektoren und nach hoheitlicher und wirtschaftlicher Leistungserbringung

    Sektor der Leistungserbringung (in alphabetischer Reihenfolge)

    Staatliche Zuständigkeit

    ElektrizitätsversorgungBund / Länder inkl. Kommunen
    GasversorgungBund / Länder inkl. Kommunen
    Gewerbliche Entsorgung / KreislaufwirtschaftLänder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte
    Gesundheit (Krankenhäuser, ambulante Versorgung, Vor- und Nachsorge, Pflege)Länder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte
    PostBund
    Verkehrs- und Beförderungswesen (Schienen, Straßen, Wasserstraßen, Luftverkehr)Bund / Länder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte   
    Geld- und Kreditversorgung (mit dem verbindlichen Auftrag zur Leistungserbringung an die Sparkassen)Bund / Länder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte  
    Telekommunikation/InternetBund / Länder inkl. Kommunen
    WohnungswirtschaftLänder inkl. Kommunen

    Tabelle 2: Kanon im Bereich der wirtschaftlichen Leistungserbringung

    Sektor der Leistungserbringung (in alphabetischer Reihenfolge)

    Staatliche Zuständigkeit

    Abwasserentsorgung/WasserversorgungLänder inkl. Kommunen
    BildungBund, Länder inkl. Kommunen
    Brand- und Katastrophenschutz, Rettungswesen

    Bund (Bundesinnenministerium, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, in erster Linie als Koordinator gegenüber den Einrichtungen der Länder und Kommunen)

    Länder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte

    Friedhöfe / KrematorienLänder inkl. Kommunen
    Hoheitliche Entsorgung (haushaltnahe Abfälle, gefährliche Abfälle, Tierkörperbeseitigung)Länder inkl. Landkreise und kreisfreie Städte
    KulturBund, Länder inkl. Kommunen
    Öffentliche Sicherheit

    Bund, Länder

    StraßenreinigungLänder inkl. Kommunen

    Tabelle 3: Kanon im Bereich der hoheitlichen Leistungserbringung

    Perspektiven

    (1) Der besondere Rang, den die Daseinsvorsorge wegen ihrer existentiellen Dimension hat, rückt immer stärker in das öffentliche Bewusstsein und wird damit zunehmend Gegenstand gesellschaftspolitischer Diskussionen. Deren Tenor lautet unter anderem, dass die Daseinsvorsorge nicht einfach in den EU-geprägten Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ (DAWI) subsumiert werden kann. Ein sichtbares Zeichen für dieses neue Verständnis ist die Tatsache, dass am 23. Juni 2017, dem internationalen Tag des öffentlichen Dienstes, erstmals auch ein Tag der Daseinsvorsorge stattgefunden hat.

    (2) Die Erkenntnis, dass es sich bei der Daseinsvorsorge eben nicht um eine beliebige Dienstleistung handelt, für deren Erbringung allein der Markt verantwortlich ist, basiert auf der Tatsache, dass die neoliberalen Konzepte von Markt und Wettbewerb in der Wirklichkeit versagt haben. In der Folge entwickelte sich eine offene, also nicht mehr tabuisierte oder stigmatisierte Diskussion, vor allem zu folgenden Fragen:

    • Sind kommunale Unternehmen, die solche Daseinsvorsorgeleistungen erbringen, die absehbar nicht rentierlich sind, x-beliebige Marktteilnehmer, die genauso behandelt werden müssen wie Wettbewerber, die ihre Leistungserbringung ausschließlich unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit erbringen?
    • Gelten für kommunale Strukturen oder Vergaben uneingeschränkt die dafür im EU-Maßstab normierten Markt- und Wettbewerbsregeln? Exemplarisch dafür steht die Forderung, interkommunale Kooperationen vom Vergaberecht freizustellen.
    • Wie sind ordnungspolitische Rahmensetzungen für jene Fälle zu modifizieren, in denen bei der wirtschaftlichen Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen längerfristig von einem Marktversagen auszugehen ist?

    (3)  Die Diskussion über die Frage öffentliche/kommunale Leistungserbringung im Bereich der Daseinsvorsorge wird strategischer und facettenreicher. Aspekte dabei sind:

    • Sollte für staatliche und kommunale Unternehmen, die in erster Linie Daseinsvorsorgeleistungen erbringen, eine Privatisierung per se ausgeschlossen werden?
    • Sollte das Privatisierungsverbot auch für solche staatliche und kommunale Unternehmen gelten, deren Gegenstand in erster Linie die Vorhaltung ggfls. auch die Implementierung von Daseinsvorsorge-Infrastrukturen  betrifft?
    • Muss für Partnerschaften von privater und öffentlicher Wirtschaft, die Leistungen und/oder Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zum Gegenstand haben, ein anderer Status normiert werden wie für jene, die wirtschaftliche Leistungen erbringen, die uneingeschränkt im Markt stehen?
    • Ist die rigide Abgrenzung zwischen Daseinsvorsorgeleistungen (oft sogar hoheitlicher Natur) und gewerblicher Leistungserbringung (zum Beispiel im Bereich der Entsorgung) tatsächlich sinnvoll, weil sie eine wirtschaftliche Optimierung auch in dem Sinne behindert, die Leistungen der Daseinsvorsorge effizienter zu erbringen?
    • Daseinsvorsorge-Infrastrukturen sind für die Erbringung der entsprechenden Leistungen die zwingende und damit auch elementare Voraussetzung. Müsste aus dieser Einordnung das Normativ abgeleitet werden, dass der Staat und die Kommunen auch Eigentümer dieser Daseinsvorsorge-Infrastrukturen sein müssen? Wird dies bejaht, müsste dieses Votum ausdrücklich einschließen, dass Vergaben zum Betrieb dieser Infrastrukturen an Anbieter aller Eigentumsformen gewährleistet sein müssen.

    (4) Im Artikel 72, Absatz 2 des Grundgesetzes und in Paragraph 2, Absatz 1 des Raumordnungsgesetzes wird die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ als übergreifendes Politikziel normiert. Dazu mehren sich in der wissenschaftlichen und zunehmend auch in der politischen Diskussion die Stimmen, die für diese Aufgabe differenzierte Umsetzungsstrategien fordern. Aspekte sind unter anderem regional unterschiedliche Standards unter Beachtung der ökonomischen und demografischen Rahmenbedingungen oder die variable Auslegung von Anschluss- und Benutzungszwängen.

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