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Arbeitsbeziehungen
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Inhaltsverzeichnis
- Definitionen und Abgrenzung
- Merkmale und Prägungen
- Verfahren der Regelsetzung
- Organisationsprinzipien
- Langfristige Entwicklungen
- Stabilität und Wandel
- Internationalisierung, insbes. Europäisierung
Definitionen und Abgrenzung
Der Gegenstandsbereich der „industrial relations“, „industrial and labor relations“ oder aktuell unter Betonung von Beschäftigungsproblemen auch „employment relations“ hat in der deutschsprachigen Literatur keine einheitliche Bezeichnung. Allmählich etablieren sich der Term „Industrielle Beziehungen“ sowie der in Bezug auf die Produktionssektoren neutralere Terminus technicus „Arbeitsbeziehungen“.
Diese Forschungsrichtung ist in den USA seit der Zeit zwischen den Weltkriegen, in Großbritannien seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet und institutionalisiert, während sie sich in der Bundesrepublik erst wesentlich später festigen konnte. Konstitutiv ist ihre interdisziplinäre Orientierung; die Beiträge stammen aus verschiedenen Disziplinen, v.a. der Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte. Weiterhin hat sie – v.a. in den USA – eine stark praxisorientierte bis pragmatische Ausrichtung, die in der Bundesrepublik kein Äquivalent findet. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage nach einem komplementären oder sich ausschließenden Verhältnis von Arbeitsbeziehungen und Human Resource Management (HRM) bzw. Personalwirtschaftslehre.
Bei der Abgrenzung des Gegenstandsbereichs der Arbeitsbeziehungen hat die Setzung von Regeln zur Bestimmung von Arbeits-und Beschäftigungsverhältnissen zentrale Bedeutung. V.a. in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Arbeitsbeziehungen häufig mithilfe von systemtheoretischen Konzepten analysiert; seit den 1980er-Jahren ist eher ein – auch ansonsten in den Sozialwissenschaften üblicher – Theorienpluralismus festzustellen (u.a. Institutionalismus, Handlungstheorien, politische Ökonomie). In handlungs- bzw. akteurszentrierter Betrachtungsweise lässt sich der Objektbereich definieren als Analyse des teils konsensuell, teils konfliktuell geprägten Beziehungsgeflechts (Konfliktpartnerschaft) innerhalb und zwischen den drei korporativen Akteuren:
- Staat (in einem weit gefassten Verständnis staatlicher Instanzen unter Einschluss von Parlament und Arbeitsgerichten),
- Arbeitgeber/Unternehmer (insbes. ihrer Interessenverbände),
- Arbeitnehmer (insbes. ihrer Interessenvertretungen Betriebsrat bzw. Gewerkschaft).
Merkmale und Prägungen
Charakteristisch für die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik ist im Gegensatz zu denen anderer Länder ihre ausgeprägte rechtliche Normierung. Zentrale Elemente ihrer umfassenden Verrechtlichung sind:
- Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) (1952, novelliert 1972 und 2001) für die betriebliche Ebene,
- Mitbestimmungsgesetze (Mitbestimmungsgesetz 1976, Drittelbeteiligungsgesetz 2004 sowie ältere Sonderregelungen für die Montanindustrie, u.a. 1951 und 1956) für die Unternehmensebene,
- Tarifvertragsgesetz (TVG) (1949, novelliert 1969 und 1974) einschließlich der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie für die Austragung des Verteilungskonflikts,
- Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), das 1998 das Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) bzw. dessen Vorläufer (Arbeitsförderungsgesetz (AFG)) ablöste und die Instrumente und Maßnahmen der Arbeitsförderung regelt (Arbeitsmarktpolitik).
Diese Verrechtlichung umfasst neben Gesetzen eine umfangreiche Rechtsetzung durch Rechtsprechung zu Problemen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Das Arbeitskampfrecht ist in Ermangelung gesetzlicher Regelungen weitestgehend sog. Richterrecht, d.h. durch Rechtsprechung v.a. des Bundesarbeitsgerichts sowie des Bundesverfassungsgerichts formuliert.
Rechtliche Normierungen legitimieren Institutionen als Träger von Interessen und definieren deren Rechte und Pflichten, v.a. der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer. Auf dieser Basis entwickeln die korporativen Akteure einen verbindlichen Handlungsrahmen sowie eine gewisse Rechtssicherheit, die Handlungsfolgen sind eher kalkulierbar und leichter prognostizierbar. Langfristig erfolgt die Institutionalisierung des Klassengegensatzes bzw. des Verteilungskonflikts zwischen Kapital und Arbeit.
Verfahren der Regelsetzung
In international-vergleichender Perspektive sind Arbeitsbeziehungen entweder monistisch oder dual geprägt, d.h. sie verfügen, wie u.a. in der Bundesrepublik, über eine explizite Trennung der betrieblichen und sektoralen Ebene bzw. ihrer Akteure und deren Handlungsoptionen oder sie kennen, wie v.a. in den angelsächsischen Ländern, diese Unterscheidung nicht. Von zentraler Bedeutung für die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik sind die Beziehungen zwischen betrieblicher und sektoraler Interessenvertretung:
- Betriebsräte als gesetzlich verankerte, betriebliche Interessenvertretungen aller Beschäftigten (mit strikter Friedenspflicht und Festlegung auf die Maxime „vertrauensvoller Zusammenarbeit“ nach § 2 BetrVG),
- Gewerkschaften als grundsätzlich freiwillige, überbetrieblich-sektorale Interessenvertretungen (ausgestattet mit dem rechtlich abgesicherten Streikmonopol nach Art. 9, Abs. 3 Grundgesetz (GG)).
Innerhalb der dual geprägten Strukturen sind beide Institutionen rechtlich voneinander unabhängig. Faktisch sind sie aufeinander angewiesen und stehen häufig in einem engen und stabilen Verhältnis arbeitsteiliger Kooperation trotz formaler Kompetenzabgrenzungen.
Folgen dieser Strukturentscheidungen sind v.a. eine gewisse „Vergewerkschaftung“ der Betriebsräte sowie die Existenz von de facto closed shops trotz eines formalrechtlichen Verbots dieser Sicherungsform in einigen zentralen Branchen. Auf betrieblicher Ebene dominieren häufig „Co-Management“ bzw. funktionale Kooperationsbeziehungen zwischen Betriebsräten und Management.
Die Setzung kollektiver Regeln kann auf dreierlei Art erfolgen, die sich ergänzen:
- unilateral (etwa durch das Management über sein Direktionsrecht oder durch den Staat per Gesetz),
- bilateral (etwa durch Management und Betriebsrat in Betriebsvereinbarungen oder durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in Tarifverträgen),
- trilateral (in Form tripartistischer Regulierungsversuche).
Die Regeln können zwei Formen annehmen:
- substantielle beziehen sich auf Inhalte (wie Entgelte oder Arbeitszeiten),
- prozedurale beziehen sich auf Verfahren (etwa Formen der Konfliktaustragung auf betrieblicher oder sektoraler Ebene).
In soziologischer Perspektive sind diese Regeln
- formale (v.a. durch Gesetze, Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen vorgegeben),
- informelle (etwa zur Ergänzung oder Konkretisierung, durch Praxis, durch implizite Vereinbarungen).
Schließlich ist eine rechtliche Unterscheidung von Konfliktformen relevant, die sowohl deren individuelle als auch kollektive Varianten umfasst:
- Rechtskonflikte beziehen sich auf die Interpretation getroffener Verträge und werden – im Gegensatz zu anderen Ländern – ausnahmslos mit schiedlich-friedlichen Mitteln gelöst, ggf. unter Einschaltung der spezialisierten Arbeitsgerichte (einschl. Landes- und Bundesarbeitsgericht).
- Regelungskonflikte beziehen sich auf den Abschluss neuer Verträge und können mithilfe legaler Mittel des Arbeitskampfes (Streik und Aussperrung) ausgetragen werden.
Organisationsprinzipien
Nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich die Gewerkschaften bei ihrem Wiederaufbau an zwei Organisationsprinzipien:
- Zum einen am Prinzip des Industrieverbandes, wonach es – im Gegensatz zu Berufs- oder Betriebsverbänden – in einer Branche nur eine Gewerkschaft geben soll,
- zum anderen am Prinzip der Einheitsgewerkschaft, die – im Gegensatz zu Richtungsgewerkschaften – weltanschaulich/ideologisch und parteipolitisch grundsätzlich unabhängig und neutral bleiben soll.
Aus diesen Grundsatzentscheidungen resultierte eine Zurückdrängung partikularer (betrieblicher, berufsständischer oder weltanschaulicher) Interessen sowie eine weitgehende Eliminierung zwischengewerkschaftlicher Konkurrenz, die erst in den 2000er-Jahren in einigen Branchen des privaten Dienstleistungssektors durch Erstarken von Berufsgewerkschaften (u.a. Ärzte, Lokführer, Piloten) wieder zunahm.
Die Durchsetzung dieser Organisationsstrukturen förderte eine mit der Verrechtlichung korrelierende gewisse Zentralisierung bzw. geringe Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen. Parallele Entwicklungen aufgrund ähnlich gelagerter Interessen auf Seiten der Arbeitgeber begünstigten und verstärkten diese Entwicklung.
Diese strukturellen Voraussetzungen verbesserten die Effizienz und Effektivität der Tarifverhandlungen. Das collective bargaining-System trug durch seinen im internationalen Vergleich mittleren Zentralisierungsgrad mit regionalen (u.a. Metall, Chemie) oder sogar bundesweiten (u.a. öffentlicher Dienst) Verhandlungen zu einer gewissen Vereinheitlichung und Standardisierung von Entgelten und übrigen Arbeitsbedingungen ebenso bei wie staatliche Regelungen durch Gesetze und Rechtsprechung. Die Tarifverhandlungen wurden regional geführt, aber viele Jahre auf beiden Seiten von den Spitzenverbänden koordiniert; sog. Pilotabkommen, die traditionell v.a. bestimmte Bezirke der Metallindustrie abschlossen, präjudizierten die übrigen Abschlüsse (pattern bargaining). Ein mittlerer Zentralisierungsgrad ging einher mit einem hohen Grad an verbandlicher Koordinierung.
Im Vergleich zur Arbeitnehmerseite sind die Strukturen der Verbände auf Arbeitgeberseite deutlich fragmentierter und ihre Zahl wesentlich größer, da u.a. aufgrund von Größenunterschieden erhebliche Interessenheterogenität innerhalb der Mitgliedschaft besteht. Ein wichtiges Merkmal der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik ist – im Gegensatz zu denen in der Mehrzahl der anderen EU-Mitgliedsländer – nach wie vor häufig die formale Trennung, aber faktisch enge Kooperation von Arbeitgeber- und Unternehmens- bzw. Wirtschaftsverbänden in wichtigen Branchen; erstere sind speziell für die Tarifpolitik mit den Gewerkschaften, letztere allg. für die Wirtschaftspolitik bzw. die politische Interessenvertretung gegenüber staatlichen Agenturen zuständig.
Die Dachverbände sind Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Die wichtigste Aufgabe von DGB und BDI besteht in der Vertretung der heterogenen Interessen ihrer Mitgliedsverbände im politischen Raum, u.a. durch Lobbyismus.
Die Organisationsgrade von Verbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft vermitteln Informationen über die Ausschöpfung des Mitgliederpotentials bzw. die Repräsentativität und dadurch die Einflussmöglichkeiten. Sie sind – ähnlich wie in anderen EU-Ländern – traditionell wie aktuell auf Arbeitnehmerseite, wo sie mit weniger als 20% den historischen Tiefstand erreicht haben, signifikant niedriger als auf Arbeitgeberseite, wo sie nach ebenfalls eingetretenen Rückgängen ca. 60% betragen.
Langfristige Entwicklungen
Die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen mit der korrespondierenden Macht- und Kompetenzverteilung wurde in den Nachkriegsjahrzehnten geprägt durch
- günstige gesamtwirtschaftliche Bedingungen (lange Prosperitätsphasen mit hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. des Bruttonationaleinkommens (BNE)) sowie Arbeitsmärkte, die gekennzeichnet waren durch geringe Arbeitslosigkeit bzw. phasenweise sogar durch Vollbeschäftigung
- sowie bestimmte politische Konstellationen (v.a. sozialliberale Koalitionen mit gewerkschaftsfreundlicher Gesetzgebung sowie trilateralen Versuchen (antizyklischer) keynesianischer Globalsteuerung) (Beschäftigungstheorie, Beschäftigungspolitik, Keynesianismus).
Diese polit-ökonomischen Voraussetzungen trugen wesentlich zur allmählichen Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates bei (Modell Deutschland). Die Tarifpartner konnten mit freiwillig-autonomen Abkommen – wie Schlichtungsvereinbarungen zur Lösung kollektiver Regelungskonflikte in allen wichtigen Branchen – diese Basis ergänzen sowie die Voraussetzungen für eine überwiegend „kooperative“ Tarifpolitik schaffen. Weiterhin sind die Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik – auch im internationalen Vergleich der EU- bzw. OECD-Länder – sowohl traditionell als auch aktuell durch ein sehr niedriges Konfliktniveau in Form von Streiks und Aussperrungen charakterisiert; Aussperrungen spielten bis in die 1980er-Jahre eine wichtige Rolle, Streiks finden nur sporadisch statt.
Die Bedeutung des Staates als Akteur der Arbeitsbeziehungen nahm in den langen Prosperitätsphasen nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Zunächst formulierte er die rechtlich-institutionellen Ausgangs- bzw. Rahmenbedingungen. Bes. in den späten 1960er- und 1970er-Jahren gab es einen Tripartismus in korporatistischen Verbünden zwischen staatlichen Agenturen und gewerkschaftlichen bzw. unternehmerischen Verbandseliten (Konzertierte Aktion, 1967-1977). Diese Verbünde waren auf relative Dauer angelegte, mehr oder weniger deutlich institutionalisierte und formalisierte, häufig von der Regierung initiierte und stabilisierte, vorwiegend politisch organisierte Tauschbeziehungen.
Der in den 1980er-Jahren erfolgte wirtschaftspolitische Strategiewechsel von nachfrage- zu angebotsorientierten Politiken bzw. vom Keynesianismus zum Monetarismus leitete eine Trendwende bzw. einen allmählichen Verfall makrokorporatistischer Regulierungsbemühungen ein. Spätere Versuche ihrer Revitalisierung in Form von Sozialpakten (wie Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit) waren nur in begrenztem Maße erfolgreich.
Ordnungspolitisch begründete Vorstöße seitens des Staates, nunmehr Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen gleichermaßen zu de-regulieren, finden – in unterschiedlicher Intensität – in verschiedenen Ländern statt; sie sind in den angelsächsischen Ländern deutlicher ausgeprägt als in der Bundesrepublik. Ihre Ergebnisse stimmen weder mit den Erwartungen der Propagandisten noch mit den Befürchtungen der Gegner überein.
In dieselbe Richtung eines neuen, dezentraleren Regulierungsmodus auf betrieblicher Ebene wirken verschiedene Strategien von Unternehmen bzw. Management zur Flexibilisierung der Beschäftigungsbedingungen. Sie bezogen sich in den 1980er-Jahren zunächst auf die Entkoppelung individueller Arbeits- und betrieblicher Anlagennutzungszeiten mit dem Ziel einer längeren Anlagennutzungsdauer, u.a. durch Einführung und Ausbau von Arbeitszeitkonten (Arbeitszeitpolitik, Arbeitszeitflexibilisierung); später erfolgte auch eine Flexibilisierung der Entgelte mit dem Ziel einer Reduzierung der Arbeitskosten (u.a. variable, z.T. leistungsorientierte Entlohnung). Insbes. die Dezentralisierung und Individualisierung in der Lohnfindung sehen einige Beobachter als den Hauptgrund für ein wirtschaftlich erstarktes Deutschland seit Mitte der 2000er-Jahre an.
Stabilität und Wandel
Die Arbeitsbeziehungen erwiesen sich in den 1980er-Jahren – auch im internationalen Vergleich – als überraschend stabil und anpassungsfähig. Diese Konstellation wandelt sich seit den 1990er-Jahren allmählich, aber inzwischen deutlich. Die Ursachen sind mehrere, zunächst national bedingte bzw. ausgelöste Entwicklungen:
- Im Prozess der deutschen Vereinigung erfolgte die Eingliederung einer zentralen Plan- in eine soziale Marktwirtschaft. Die korporativen Akteure übertrugen die bestehenden Institutionen und Prinzipien der Arbeitsbeziehungen komplett auf die neuen Bundesländer. Nach anfänglichen, erstaunlichen Erfolgen kam es zu anhaltenden Problemen: fehlende praktische Erfahrungen im Umgang mit Regeln und Institutionen, verschlechterte Rahmenbedingungen, die zu hohen sozialen und ökonomischen Kosten im Osten sowie mittelfristig zu Rückwirkungen auch im Westen führten, andauernde, aus ökonomischen Gründen notwendige Unterschiede in den Tarifpolitiken, welche die ursprünglich erhoffte rasche Angleichung der Einkommens- und übrigen Arbeitsbedingungen unmöglich machten.
- Mit der Abnahme der Bedeutung industrieller Massenproduktion einher ging eine abnehmende Bedeutung des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses bzw. eine Zunahme atypischer Beschäftigungsformen (u.a. Teilzeit, geringfügige Beschäftigung bzw. Mini- und Midi-Jobs, Befristung, Leiharbeit, Solo-Selbstständigkeit) (atypische Beschäftigung). Sie machen inzwischen nahezu 40% aller Beschäftigungsverhältnisse in der Bundesrepublik aus und sind mit erheblichen Prekaritätsrisiken verbunden (Einkommen, Beschäftigungsstabilität, Beschäftigungsfähigkeit, soziale Sicherung).
- Der wirtschaftliche und soziale Strukturwandel setzt sich fort. Die Schwerpunkte verlagern sich von der tayloristisch-fordistischen zur post-fordistischen Produktionsweise bzw. vom sekundären Sektor der Industrie zum tertiären der Dienstleistungen.
Die Folge dieser Entwicklungen auf Produkt- und Arbeitsmärkten sind erhebliche Veränderungen nicht nur der Arbeitsprozesse und -organisation sondern auch der Arbeitsbeziehungen:
- Die Verbände beider Seiten stehen seit den 1990er-Jahren vor massiven Organisationsproblemen, die Gegenmaßnahmen notwendig machten. Die Gewerkschaften haben erhebliche Mitgliederverluste und dadurch bedingte Finanzierungsprobleme zu beklagen, auf die sie in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – mit einer Reihe von Zusammenschlüssen sowie seit Mitte der 2000er-Jahre mit Revitalisierungsstrategien reagierten. Die Arbeitgeberverbände haben mit Verbandsabstinenz neuer Unternehmen, Verbandsaustritten sowie stiller Tarifflucht, d.h. Nicht-Einhaltung getroffener Regelungen trotz andauernder Verbandsmitgliedschaft, zu kämpfen, worauf sie u.a. mit der Einführung eines zusätzlichen bzw. neuen Status, nämlich einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaft), sowie der Gründung eigenständiger Verbände ohne Tarifbindung (sog. Parallelverbände) reagierten.
- Seit Mitte der 1980er-Jahre erfolgt eine allmähliche Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen, wobei analytisch zwei Varianten zu unterscheiden sind: Bei der kontrollierten steuern die korporativen Akteure der sektoralen Ebene diese Entwicklung mit dem Ziel einer Stabilisierung bzw. Weiterentwicklung des Tarifvertragssystems; bei der nicht-kontrollierten („wilden“) werden bestehende Regelungen faktisch nicht eingehalten, wodurch langfristig eine Systemänderung oder sogar ein -wechsel eintritt.
Die in verschiedenen Ländern stattfindende Dezentralisierung ist in der Bundesrepublik inzwischen weit fortgeschritten:
- Neben das etablierte System der Flächentarifverträge tritt eine wachsende Zahl von Haus- bzw. Firmentarifverträgen, die v.a. in kleinen und mittelständischen Unternehmen, in privaten Dienstleistungsbranchen sowie in den neuen Bundesländern geschlossen werden.
- Außerdem gibt es verschiedene Formen sowie eine zunehmende Zahl von Öffnungsklauseln als Verfahren zur Anpassung von Regelungen in Flächentarifverträgen an betriebsspezifische Bedingungen (u.a. zunächst der Arbeitszeiten, später auch der Entgelte); sie belegen einen hohen Grad an Heterogenität und Flexibilität des Tarifvertragssystems.
- Die Bedeutung der betrieblichen Akteure und ihrer Handlungsoptionen für die Arbeitsbeziehungen nimmt im Prozess der Dezentralisierung zu, ihre Aufgaben werden mehr und vielfältiger („Verbetrieblichung“): Zahl und Bedeutung von Betriebsvereinbarungen, die als betriebsspezifische Regelungen zwischen Management und Betriebsrat geschlossen werden, steigen an; enge Interessenkoalitionen („betriebliche Bündnisse für Arbeit“) kommen häufiger vor.
Diese langfristigen Entwicklungen lassen sich durch die in der aktuellen Literatur üblichen Indikatoren verdeutlichen:
- Die tariflichen Deckungsraten, d.h. der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag erfasst werden, nahmen seit den mittleren 1990er-Jahren erkennbar ab (im Westen von mehr als 70% auf 60%, im Osten von mehr als 60% auf weniger als 40%); erhebliche Differenzen bestehen zwischen einzelnen Branchen.
- Die betrieblichen Deckungsraten, d.h. der Anteil der Beschäftigten, die über eine Interessenvertretung verfügen, gehen ebenfalls zurück, wobei zwischen Betriebsräten und anderen Mitarbeitervertretungen zu unterscheiden ist (aktuell im Westen Deutschlands: knapp 60%, im Osten: weniger als 50%).
Fazit: Die für den Zeitraum seit Mitte der 1990er-Jahre vorliegenden Paneldaten zeigen, dass die Vertretungslücken (sog. weiße Flecken) sowohl auf betrieblicher als auch auf sektoraler Ebene größer werden. Die Arbeitsbeziehungen sind aktuell in geringerem Maße durch eine duale Struktur geprägt als dies in der Vergangenheit der Fall war. Diese Transformation vollzieht sich zwar inkrementell und ohne wesentliche Änderungen der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen, ihre Folgen sind jedoch kumulativ und daher grundlegend.
Seit den 1990er-Jahren haben die Entgeltunterschiede – und dadurch die Unterschiede der Lebensbedingungen und letztendlich die soziale Ungleichheit – zugenommen. Der Niedriglohnsektor, der gemäß international akzeptierter Definition Entgelte von weniger als zwei Drittel des Medianlohns umfasst, expandiert sichtbar und hat (mit inzwischen über 20%) ein im Vergleich der EU-Mitgliedsländer überproportional großes Ausmaß erreicht. Eine Reaktion ist die 2014 beschlossene Einführung eines allgemein geltenden, gesetzlichen Mindestlohns (Mindestlohn).
Internationalisierung, insbes. Europäisierung
Weitere Veränderungen bzw. Anpassungen der Arbeitsbeziehungen werden durch externe Faktoren, v.a. durch Prozesse der Internationalisierung in Form von Europäisierung, verursacht. Nach der Vollendung des Binnenmarktes zu Beginn sowie der Wirtschafts- und Währungsunion Ende der 1990er-Jahre offenbart sich das Problem der Entwicklung supranationaler Arbeitsbeziehungen mit dem Ziel der Formulierung verbindlicher sozialer Mindeststandards, nicht der Vereinheitlichung bestehender nationaler Regelungen. Die Schaffung einer „sozialen Dimension des Binnenmarktes“ bzw. eines „europäischen Sozialmodells“ steht u.a. vor folgenden Schwierigkeiten:
- Nach jahrzehntelangen, nicht konsensfähigen Versuchen sieht eine Richtlinie (1994, novelliert 2009) vor, dass in „gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen“ mit mindestens 1.000 Beschäftigten supranationale betriebliche Interessenvertretungen zur „Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer“ eingerichtet werden sollen. Sie sollen vorhandene nationale Arbeitnehmervertretungen nicht ersetzen, sondern ergänzen; ihre grenzüberschreitenden Befugnisse werden nicht zentral-einheitlich vorgegeben, sondern auf Ebene der multinational tätigen Unternehmen verhandelt. Derzeit bestehen ca. 1.000 aktive Europäische Betriebsräte (EBR), was einer Deckungsrate, bezogen auf die EBR-fähigen Unternehmen, von gut einem Drittel entspricht. Die einzelnen EBR befinden sich in recht unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung.
- Die nationalen Dachverbände der Tarifvertragsparteien haben sich auf europäischer Ebene zu Businesseurope (vormals: Union des Industries de la Communauté Européenne (UNICE)) bzw. Europäischem Gewerkschaftsbund (EGB) zusammengeschlossen. Auf sektoraler Ebene bestehen Zusammenschlüsse der nationalen Gewerkschaften, nicht hingegen aller Wirtschafts- bzw. Arbeitgeberverbände. Transnationale Kollektivverhandlungen finden – zumindest bisher – nicht statt.
- Auf absehbare Zukunft sind die europäischen Dachverbände, v.a. aber deren sektoral-supranationalen Mitgliedsverbände, kaum aktions- und politikfähig zwecks Gestaltung der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik. Die Sozialpartner nutzen ihre durch Änderungen der EU-Verträge (Art. 154-155 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) erheblich erweiterten Handlungsmöglichkeiten im Rahmen von zentralen bzw. sektoralen Sozialdialogen wegen andauernder Interessengegensätze kaum aus; die Zahl der Abkommen, die für die Sozialpartner verbindlich sind, bleibt auf beiden Ebenen gering.
- In der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik verfügte die EU traditionell über keine Kompetenzen. Seit Ende der 1990er-Jahre besteht ein eigenständiges Beschäftigungskapitel (Art. 145-150 AEUV), welches die supranationale Koordinierung der nationalen Politiken fördern soll. Die Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien (u.a. Erhöhung der Beschäftigungsquote, Förderung lebenslangen Lernens, Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut) erfolgt national (Europäische Beschäftigungspolitik).
Die seit den 1990er-Jahren beschleunigten Tendenzen zur Globalisierung von Faktor- und v.a. Kapitalmärkten können infolge der erhöhten Mobilitätschancen von Kapital sowie der zunehmenden grenzüberschreitenden Aktivitäten von Unternehmen zur Entgrenzung und zunehmenden Instabilität nationaler Arbeitsbeziehungen sowie zu Veränderungen ihrer Regulationsmodi führen. Allerdings sind die unterschiedlichen Motive und empirisch zu beobachtenden Effekte der Auslandsaktivitäten von gängigen Fiktionen im Hinblick auf die Erzielung von Effizienzgewinnen, Gerechtigkeitsüberlegungen und nachhaltigem Wachstum zu trennen.
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