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Mindestlohn
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Inhaltsverzeichnis
- Definition, Abgrenzung und Ziele
- Theoretische Perspektive
- Positionen und aktuellere Entwicklung in Deutschland
- Wirkungen
Definition, Abgrenzung und Ziele
Ein Mindestlohn ist ein via gesetzlicher oder tarifvertraglicher Regelung in der Höhe festgelegtes kleinstes rechtlich zulässiges Arbeitsentgelt. Eine Mindestlohnregelung kann sich auf den Stundensatz oder den Monatslohn bei Vollzeitbeschäftigung beziehen. Neben national wirkenden Mindestlöhnen gibt es als weitere Erscheinungsformen v.a. regionale, branchen- oder berufsspezifische Varianten. Während in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn existiert, haben Österreich, die skandinavischen Länder und Italien keinen solchen. Allerdings ist in diesen Ländern die Tarifbindung wesentlich höher als in Deutschland, entweder durch die Pflichtmitgliedschaft in den jeweiligen Kammern bzw. einen hohen Organisationsgrad der Gewerkschaften und somit kollektivvertraglich oder – wie im Falle von Italien – verfassungsrechtlich gesichert.
Die Einführung von Mindestlöhnen verfolgt zwei Hauptziele:
- Erstens sollen Arbeitnehmer mit einer geringen Verhandlungs- und Vertretungsmacht vor Ausbeutung durch den Arbeitgeber und vor Lohndumping geschützt werden.
- Zweitens soll Armut trotz bezahlter Arbeit (Working Poor) bekämpft und den Erwerbstätigen die Sicherung des Subsistenzniveaus ermöglicht bzw. ein angemessener Lebensunterhalt gewährleistet werden.
Generell zielen Mindestlöhne darauf ab, den Wohlstand der Geringst- und Geringqualifizierten und damit der Geringst- bzw. Geringbezahlten (Humankapitaltheorien; Arbeitsmarkttheorien) durch einen höheren Lohn zu heben und sie davor zu bewahren, zu Working Poor („Arm trotz Arbeit“) zu werden. Die Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit kann somit ein gewichtiges öffentliches Interesse beinhalten und dessen Durchsetzung kann zur Erhaltung des sozialen Friedens beitragen. Die Mindestlohneinführung ist allerdings ein Eingriff in die Funktionsweise des Arbeitsmarktes. Damit stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese mit sich bringt.
Die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen ist auch in den deutschsprachigen Ländern immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Neue Nahrung erhält die Debatte dadurch, dass Vollzeiterwerbstätigkeit offenbar nicht immer und zunehmend weniger oft vor Erwerbsarmut sowie Armut generell schützt. Der Beitrag behandelt zunächst Zusammenhänge allg. in theoretischer Perspektive der Marktformenlehre und geht dann auf die spezifische Situation und Probleme in Deutschland vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns auf Bundesebene ein.
Theoretische Perspektive
Staatliche Eingriffe in Märkte mit vollkommener Konkurrenz lassen sich nur rechtfertigen, wenn Marktversagen vorliegt (z.B. nicht in den Marktpreisen internalisierte positive oder negative externe Effekte), welches durch geeignete Instrumente in Richtung der effizienten Gleichgewichtslösung korrigiert werden kann. Im diametral entgegengesetzten Fall, der lange Zeit als nicht realistische Anomalie und oft als „intellektuelle Kuriosität“ bezeichneten Marktform des Monopsons, kann es hingegen durchaus sinnvoll sein, das durch einen Wohlfahrtsverlust gekennzeichnete und damit volkswirtschaftlich ineffiziente Marktergebnis via Einführung eines bindenden Mindestlohns zu verbessern.
Die grundlegende theoretische Analyse zeigt, dass ein volkswirtschaftlich effizientes Gleichgewicht am Arbeitsmarkt bei unterschiedlichen Marktformen erreicht werden kann: Kein Wohlfahrtsverlust und damit die maximal mögliche Beschäftigungsmenge sind im Marktgleichgewicht bei funktionierender vollständiger Konkurrenz automatisch realisiert, aber auch durch Einführung eines bindenden Mindestlohns bei einem Arbeitgeber, der über Marktmacht verfügt, in Höhe des marktgleichgewichtigen Lohns realisierbar. Dieser Zusammenhang führt zu zwei wesentlichen Erkenntnissen: Wird ein lehrbuchmäßig funktionierender Arbeitsmarkt betrachtet, der durch vollständige Konkurrenz auf beiden Seiten gekennzeichnet ist (Marktform des Polypols), sollte aus Effizienzgesichtspunkten nie in den Markt eingegriffen werden. Handelt es sich jedoch um einen Arbeitsmarkt, auf dem es nur einen Nachfrager nach homogenen Arbeitskräften gibt (Marktform des Monopsons), kann es durchaus sinnvoll sein, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen und dadurch die Gesamtwohlfahrt zu steigern; notabene zulasten des Gewinns des Monopsonisten und zugunsten der Einkommenssituation der Beschäftigten.
Die Marktform der vollständigen Konkurrenz ist in der Realität eher selten, z.B. beim Austausch von unqualifizierter oder wenig qualifizierter Arbeit zwischen homogenen Arbeitgebern und homogenen Arbeitskräften, die zudem beide mobil sind. Die Marktform des Monopsons ist in der Realität ebenfalls eher selten, z.B. die Dominanz eines Arbeitgebers für eine bestimmte homogene Arbeitsleistung von (weitgehend) immobilen Arbeitskräften in einer bestimmten Region. Die geografische Immobilität der Beschäftigten resultiert hierbei v.a. daraus, dass der Lohngewinn des Stellenwechsels die damit verbundenen Mobilitätskosten (Transaktionskosten) nicht decken würde. Ein lokaler Arbeitgeber kann selbstverständlich auch bedeutende Marktmacht für mehrere nur von ihm nachgefragte Berufe oder Qualifikationen genießen.
Die Forschung hat sich deshalb den in der Realität relevanteren Marktformen zugewandt, die zwischen den beiden Extremen der vollständigen und der nicht vorhandenen Konkurrenz auf Arbeitgeberseite anzusiedeln sind. Denn eine gewisse, häufig zumindest temporär auftretende Marktmacht zur Lohnsetzung existiert auch auf Märkten mit heterogenen Arbeitskräften und unvollständiger Information. So können auf segmentierten, differenzierten und intransparenten Arbeitsmärkten selbst kleinere Unternehmen eine gewisse Marktmacht entfalten. Die neue Monopsontheorie betont deshalb firmenspezifische Weiterbildungen und resultierende bindungsspezifische Wirkungen (Segmentationstheorien, Humankapitaltheorien; vgl. Arbeitsmarkttheorien) sowie die verschiedene Ursachen aufweisende Immobilität der Arbeitskräfte, weshalb Arbeitgeber dennoch Marktmacht ausüben können. Auch die Auseinandersetzung mit den Marktformen des Oligopsons (einige wenige große Arbeitgeber fragen die gleichen Arbeitskräfte nach) oder der monopsonistischen Konkurrenz (viele kleine Arbeitgeber fragen ähnliche Arbeitskräfte nach) zeigt, dass die Einführung eines Mindestlohns ebenfalls einen Anstieg der Gesamtbeschäftigung bewirken kann. Während im ersten Fall zudem ein zum Teil erheblicher Gewinnrückgang bei den einzelnen (großen) Unternehmen einsetzt, verringert sich im zweiten Fall die Anzahl der (bei dieser Marktform sehr kleinen) Unternehmen.
Grundsätzlich lässt eine Ausweitung der Perspektive auf realistischere Marktformen oder einen längeren Zeithorizont die Beschäftigungswirkungen eines Mindestlohns differenzierter und in vielen Fällen positiver zum Tragen kommen. Ein bindender Mindestlohn setzt Anreize für Unternehmen zu Investitionen in Humankapital, zur Produktivitätssteigerung via Innovationen und zur Beseitigung von Ineffizienzen in der Allokation von Ressourcen. Gleichzeitig veranlasst er Arbeitnehmer, weniger häufig selbst zu kündigen, vermehrt in ihre Bildung zu investieren, um damit ihre Arbeitsproduktivität zu erhöhen, und hält sie zur Abgabe ihrer Leistungsfähigkeit an, um möglichst lange in den Genuss des höheren Mindestlohnes zu kommen (Effizienzlohntheorien; vgl. Arbeitsmarkttheorien). Gleichzeitig setzen Mindestlöhne Anreize für Arbeitslose und Stellensuchende, ihre Suchanstrengungen nach Arbeitsplätzen zu erhöhen, da Erwerbstätigkeit auch bei Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt attraktiver wird (Suchtheorien; vgl. Arbeitsmarkttheorien). Deshalb werden diese Personen ein Jobangebot eher und somit häufiger akzeptieren, um ebenfalls nur einige zusätzlich zu berücksichtigende Aspekte anzudeuten.
Zudem bestätigt sich die früher bei Ökonomen häufig zu vernehmende These, mit der Mindestlohnpolitik sei das Risiko einer höheren Arbeitslosigkeit verbunden, weil sich das Arbeitsangebot erhöht und die Arbeitsnachfrage zurückgeht, empirisch kaum. Aus verschiedenen Studien, die hierzu in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, geht hervor, dass diese Gefahr – außer bei Jugendlichen – nicht oder nur sehr eingeschränkt besteht.
Schließlich erweist sich die Einbindung der mikroökonomischen Arbeitsmarkttheorie in ein keynesianisch orientiertes, makroökonomisches kreislauftheoretisches Nachfragemodell (Keynesianismus), das den Kaufkrafteffekt höherer Löhne von Geringverdienern aufgrund ihrer hohen marginalen Konsumquote bzw. sehr geringen Sparquote betont, als vorteilhaft. Sie führt dazu, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ebenfalls positiver beurteilt wird und zusätzliche Arbeitsnachfrage generiert. Dieser Zusammenhang gilt in bes. Maße, wenn die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet sind und damit die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage (positiver Einkommenseffekt) nicht durch eine entsprechende Erhöhung des Preisniveaus (gegenläufiger Preiseffekt bei Vollbeschäftigung) konterkariert wird. Führt die Einführung eines Mindestlohns zu höheren Humankapitalinvestitionen und/oder zu technologischem Fortschritt, können schließlich positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum eintreten.
Diese Ausführungen zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Beschäftigungshöhe keinesfalls eindeutig ist. Auch empirische Studien belegen, dass häufig keine eindeutige Verbindung zwischen beiden Variablen festzustellen ist, sodass die Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Beschäftigung negativ, null oder positiv sein können. Selbst bei Niedriglohntätigkeiten, bei denen am ehesten die Marktform der vollkommenen Konkurrenz angenommen werden kann, weshalb Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitgebervertreter diese häufig als Beispiel für die Vernichtung von Arbeitsplätzen bei Wirksamwerden eines gesetzlichen Mindestlohns anführen, zeigt eine neuere Studie: Sämtliche Anhebungen der US-Mindestlöhne von 1990 bis 2006 blieben ohne Beschäftigungseffekte. Fast immer verdienten die Geringqualifizierten nachher mehr, sodass sich ihre Einkommenssituation tatsächlich verbessert hat.
Die neuere Arbeitsmarktforschung zeigt eine Reihe von Fällen auf, in denen die Einführung eines allg. Mindestlohns aus ökonomischen Gründen zu befürworten ist. Dennoch lehnt die Mehrheit der Ökonomen gesetzliche oder tarifvertragliche Mindestlöhne nach wie vor ab, wenngleich mit wechselnden Argumenten. So wird neuerdings die durch die Einführung von Mindestlöhnen für Geringverdiener ausgelöste Lohnkompression als ungerecht und demotivierend für die Normalverdiener angesehen, die nach temporärer Einführung von Mindestlöhnen in Laborversuchen festgestellten steigenden Reservationslöhne als Indiz für gestiegenes Anspruchsdenken angemahnt oder auf die Motivationswirkung freiwillig gezahlter Effizienzlöhne hingewiesen. Weil eine Reihe relativ aktueller Metaanalysen, welche die Resultate einer möglichst großen Anzahl von empirischen Primäruntersuchungen vereinen und statistisch auswerten, nur (sehr) geringe Beschäftigungseffekte eruieren, sodass faktisch eine Beschäftigungsinelastizität bzw. genauer eine Beschäftigungselastizität des Mindestlohns von nahe null besteht, verlagert sich der Fokus der Kritiker von Mindestlöhnen nun von der komparativ-statischen auf die dynamische Dimension der Argumentation. So wird angemahnt, dass zwar als unmittelbare Auswirkung nach Einführung oder Erhöhung des Mindestlohns nur wenige Stellen gestrichen werden, dass aber das Arbeitsplatzwachstum auf Dauer gehemmt werden könnte. Damit ist ein Paradigmenwechsel in der Frage der Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen noch lange nicht in Sicht.
Positionen und aktuellere Entwicklung in Deutschland
Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns bleibt unter Ökonomen umstritten. Bei den auch in der Diskussion in der Bundesrepublik häufig zitierten US-amerikanischen Arbeitsökonomen stehen sich nach wie vor zwei Lager diametral gegenüber. Die Gegner lehnen einen Mindestlohn grundsätzlich ab, v.a. weil sie negative Folgen für das Beschäftigungsniveau und das Stellenwachstum befürchten. Die Befürworter halten die Prämissen dieser Position für nicht gegeben und die Befürchtungen für übertrieben bzw. gegenstandslos. In der Bundesrepublik rät die Mehrzahl der Ökonomen nach wie vor zur Ablehnung, während eine wachsende Minderheit die Einführung befürwortet. Die Gegner argumentieren zumeist auf Basis US-amerikanischer Studien, deduktiver Ableitungen aus Wettbewerbsmodellen des Arbeitsmarktes sowie Modellrechnungen bzw. Mikrosimulationsmodellen; die Propagandisten beziehen sich vor allem auf aktuelle Untersuchungen in mehreren Ländern, auf Metaanalysen sowie auf Evaluationsstudien über branchenspezifische Mindestlöhne.
Die Tarifvertragsparteien nahmen ebenfalls unterschiedliche Positionen ein. Die Mehrzahl der Arbeitgeberverbände lehnte Mindestlöhne unter Verweis auf negative Beschäftigungseffekte strikt ab. Mehrere Gewerkschaften, vor allem die der privaten Dienstleistungssektoren, votierten seit Mitte der 2000er-Jahre vehement für die Einführung; zur Begründung verwiesen sie u.a. auf die langfristig abnehmenden Deckungsraten von Tarifverträgen auf Branchen- und Betriebsebene bzw. die Existenz tarifloser Branchen (Arbeitsbeziehungen), die deutliche Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Atypische Beschäftigung), die langfristig erhebliche Expansion des Niedriglohnsektors (Niedriglohnsektor) mit einer wachsenden Zahl an Working Poor sowie auf die zunehmende soziale Ungleichheit und Vorstellungen von (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Eine allmählich steigende Zahl von Tarifpartnern in ca. 20 bes. betroffenen Branchen (u.a. Bauhauptgewerbe, Gebäudereinigung, Pflegebranche, Fleischindustrie, Friseurhandwerk, Abfallwirtschaft, Saisonarbeit in der Landwirtschaft, Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung)) vereinbarten im Laufe der Jahre branchenspezifische Mindestlöhne; diese Tarifpartner beschritten damit auf vertraglicher Basis einen Weg, der gesetzlich lange nicht zur Verfügung stand.
Diese Grundsatzkontroverse unter Ökonomen und Tarifvertragsparteien setzte sich zwischen den Parteien bzw. in den Regierungskoalitionen fort. Da die zur Einführung notwendigen politischen Mehrheiten bei wechselnder Zusammensetzung der Regierungen lange Zeit nicht zustande kamen, gehörte Deutschland zu der Minderheit von EU-Mitgliedsländern, die nicht über einen allgemein-flächendeckenden Mindestlohn verfügten. Erst die 2013 ins Amt gekommene Regierung der dritten Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beschloss Mitte 2014 mit dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz)“ vom 11.08.2014 (BGBl. I S. 1348) seine Einführung. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn sollen der Lohnunterbietungswettlauf zwischen den Unternehmen auf Kosten der Arbeitskräfte (Schutzgedanke) und zu Lasten der finanziellen Stabilität der sozialen Sicherungssysteme (Wettbewerbsverzerrungsgedanke) eingedämmt werden, ohne dadurch die Beschäftigungsentwicklung grundsätzlich zu gefährden (Potenzialwachstum, Vollbeschäftigungsgedanke) (Vollbeschäftigung). Bei seiner Einführung am 1.1.2015 belief sich die Höhe des flächendeckenden Mindestlohns auf brutto 8,50 Euro je Zeitstunde; zum 1.1.2017 erfolgte eine Erhöhung auf 8,84 Euro.
Wirkungen
Mit der Grundsatzentscheidung über die Einführung sind keineswegs die Probleme der Implementation bzw. Umsetzung gelöst. Gleichzeitig kann das zweite Hauptziel dennoch nicht für alle betroffenen Beschäftigtengruppen erreicht werden:
- Neben dem Zeitpunkt seiner Einführung ist die Höhe des Mindestlohns von entscheidender Bedeutung für seine Wirkungen auf das Beschäftigungsniveau. Je niedriger die Lohnuntergrenze, desto geringer die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer und damit die Wirkung. Im Vergleich der westeuropäischen EU-Länder markiert die politisch festgelegte Höhe von 8,50 Euro eher eine Untergrenze; sie entspricht ca. 50% des mittleren Entgelts von Vollzeitbeschäftigten (Medianlohns). Diese Höhe kann zwar der Unsicherheit in der Phase nach der Einführung Rechnung tragen. Sie beseitigt jedoch nicht die Einkommensprobleme der Niedriglohnempfänger und ist damit kaum armutsvermeidend. Aufstocker, die überproportional häufig in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (vor allem in Mini-Jobs) tätig sind, profitieren nur sehr eingeschränkt von der Einführung. Aufstocker (ca. 1,2 Mio.) sind Personen, die zwar Erwerbseinkommen (überwiegende Mehrheit) oder Arbeitslosengeld bzw. Teilarbeitslosengeld (Minderheit von rd. 60.000 arbeitslosen Aufstockern im Jahr 2017) erzielen, gleichzeitig aber (weitere) staatliche Transferleistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums (Arbeitslosengeld II) in Anspruch nehmen müssen (Existenzminimum). Da die Gründe für ihre Bedürftigkeit vielfältig sind, nämlich niedrige Stundenlöhne, geringe Erwerbsbeteiligung mit wenigen Arbeitsstunden oder eine große Anzahl von Haushaltsmitgliedern, bewirkt die Einführung eines Mindestlohns auf Stundenbasis allenfalls geringe Entlastungseffekte.
- Die ersten empirischen Evaluationsstudien bestätigen nicht die vielfach geäußerten Befürchtungen, dass wegen der Einführung des allgemeinen Mindestlohns Arbeitsplatzverluste in erheblichem Umfang eintreten würden. Die vor der Einführung gegebene positive Entwicklung der Erwerbstätigkeit setzt sich fort. Die Beschäftigungsstruktur ändert sich: Die Zahl der Mini-Jobs nimmt – bei hoher Persistenz – moderat ab; ca. die Hälfte der Abgänge erfolgt wegen Umwandlung in sozialversicherungspflichtige (vor allem Teilzeit-)Beschäftigung. Am meisten profitieren die Beschäftigten in privaten Dienstleistungsbranchen (u.a. Einzelhandel, Gastgewerbe, Wach- und Sicherheitsdienste). Bei einer Unterscheidung nach Beschäftigungsformen sind v.a. Mini-Jobber die Gewinner. Insgesamt sind – unter Ausschluss der genannten Ausnahmen (siehe die beiden nächsten Spiegelpunkte) – ca. 4 Mio. Jobs (gut 11 Prozent) betroffen, Frauen sind deutlich überrepräsentiert. Bei den betroffenen Betrieben werden nur selten mindestlohnbedingte Entlassungen vorgenommen. Anpassungen erfolgen vielmehr durch Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsverdichtung sowie durch Zurückhaltung bei den Einstellungen. Einige Betriebe erhöhen auch die Absatzpreise. Der leichte Rückgang der von Armut bedrohten Vollzeitbeschäftigten (Working Poor) zwischen den Jahren 2014 und 2015 könnte auf erste Wirkungen des Mindestlohns auch in diesem Bereich hindeuten.
- Heftig umstritten zwischen Parteien und Tarifvertragspartnern bleiben die letztendlich als politische Kompromisse beschlossenen Ausnahmen, deren Langzeitwirkungen abzuwarten sind: Jugendliche unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten nach Aufnahme einer Beschäftigung, Auszubildende und Studierende, die Pflichtpraktika absolvieren sowie freiwillige Praktika bis zu drei Monaten zur Orientierung oder begleitend zur Ausbildung. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland werden nicht gemacht. – In diesem Kontext ist zu beachten, dass die intendierte Wirkung des Mindestlohns mit der Zahl der getroffenen Ausnahmen bzw. Betroffenen abnimmt; überproportional häufig betroffen sind Frauen sowie Arbeitnehmer in Ostdeutschland. Weiterhin bestehen rechtliche Bedenken: Gruppenspezifische Ausnahmen verletzen den im Grundgesetz garantierten Grundsatz der Gleichbehandlung. Schließlich können am Arbeitsmarkt Verzerrungen i.S. von Verdrängungseffekten zugunsten der ausgenommenen Gruppen eintreten. Eine erste Befragung von Langzeitarbeitslosen deutet jedoch darauf hin, dass die Ausnahmeregelung für diese Personengruppe zumindest bisher nur selten genutzt wird.
- Die Einführung des Mindestlohns erfolgte auf Anfang 2015. Allerdings können im Rahmen einer Übergangsregelung Tarifverträge, in denen vorher niedrigere Entgelte vereinbart wurden, bis Ende 2017 weiter gelten, wenn sie für allgemeinverbindlich erklärt wurden. Einerseits erleichtern diese langen Ankündigungs- und Übergangsfristen bzw. die zeitlich gestreckte Einführung den Unternehmen, etwa Zeitungsherstellern, die Anpassung und verhindern ansonsten mögliche Arbeitsplatzverluste; andererseits verzögern sie die Wirkungen und reduzieren die Zahl der unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer.
- Ohne regelmäßige Anpassungen an eingetretene Steigerungen des allg. Preisniveaus (Inflation) erodiert der reale Gegenwert des nominalen Mindestlohns allmählich, wie das Beispiel des Federal Minimum Wage der USA immer wieder belegt. Daher müssen Verfahren und Institutionen eingeführt werden, die Empfehlungen über mehr oder weniger regelmäßig vorzunehmende Anpassungen abgeben. Orientiert am Vorbild der Low Pay Commission in Großbritannien wird eine ständige Kommission der Tarifpartner eingerichtet, die sich aus dem Vorsitzenden, je drei ständigen Vertretern der Dachverbände von Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie zwei nicht-stimmberechtigten Wissenschaftlern zusammensetzt. Diese sog. Mindestlohnkommission unterbreitet im Rahmen einer Abwägung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, insbes. der durchschnittlichen tariflichen Stundenlöhne (Tarifindex), Vorschläge über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung verbindlich machen kann. Die Kommission trat erstmals 2016 zusammen und wird sich in der Folge regelmäßig alle zwei Jahre treffen. Ob ihre Arbeit, wie manche Beobachter befürchten, durch Wiederholung der Grundsatzdiskussion über Nutzen vs. Schaden des allg. Mindestlohns erschwert und von Kalkülen politischer Wahlzyklen beeinflusst wird oder zur weitgehenden Versachlichung der Diskussion beiträgt, lässt sich noch nicht beurteilen. Die erste Mindestlohnerhöhung jedenfalls wurde von ihr veranlasst.
- Die Umsetzung des Mindestlohns darf nicht nur durch Informationen, etwa über eine Hotline, begleitet werden. Sie muss kontrolliert werden, um die Erzielung unlauterer Wettbewerbsvorteile durch Nicht-Einhaltung zu vermeiden. Daher müssen Verfahren und Instanzen zur Verhinderung opportunistischen Verhaltens (u.a. unbezahlte Überstunden, Scheinselbständigkeit, Werkverträge, Schwarzarbeit bzw. Schattenwirtschaft) eingerichtet werden. Betriebsräte scheiden häufig als Kontrollinstanz aus: Die betrieblichen Deckungsraten sind gerade in den überdurchschnittlich häufig betroffenen Branchen (vor allem des privaten Dienstleistungssektors, wie Gaststätten und Einzelhandel) sowie bei kleinen und mittelständischen Betrieben bes. niedrig, d.h. Betriebsräte bestehen häufig nicht. Die Aufgaben übernehmen die Behörden der Zollverwaltung, bei denen mittelfristig zusätzliche Planstellen eingerichtet werden sollen. Die vorhandenen personellen Ressourcen der zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) reichen zur Erreichung einer effektiven Kontrolldichte nicht aus.
Last but not least: Generell dürfen die Wirkungen eines moderaten Mindestlohns nicht überschätzt werden. Seine Einführung wird daher begleitet von weiteren Maßnahmen, die das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie vorsieht: Stabilisierung des seit den 1990er-Jahren erodierenden Tarifvertragssystems durch Erhöhung der tariflichen Deckungsraten via Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (§ 5 TVG) sowie Ausweitung des 1996 in Kraft getretenen Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG).
Zur Armutsbekämpfung eignen sich Mindestlöhne nur bedingt: Ihre Wirkungen setzen Partizipation am Arbeitsmarkt in hinreichendem Umfang voraus, was v.a. bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen (wie Mini-Jobs) nicht der Fall ist. Weiterhin ist die individuelle von der Haushaltssituation zu unterscheiden. Die zu erwartenden, gruppenspezifisch differierenden Verteilungswirkungen, die in analytischer Perspektive von den häufig untersuchten Beschäftigungseffekten zu unterscheiden sind, bedürfen ebenfalls weiterer Analysen wie die Lohnstruktur- und fiskalischen Effekte. Zu erwähnen bleibt, dass einige Befürworter des Mindestlohns eine europäische Mindestlohnpolitik fordern.
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