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Arbeitsbeziehungen

Definition: Was ist "Arbeitsbeziehungen"?

Das Lehr- und Forschungsgebiet der Arbeitsbeziehungen beschäftigt sich mit den Austauschbeziehungen zwischen den Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Es werden die gegensätzlichen Interessen, aber auch das von gegenseitiger Abhängigkeit geprägte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. ihren betrieblichen, sektoralen und nationalen Interessenvertretungen sowie die Rolle des Staates analysiert. Hierbei steht die kollektive Gestaltung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen entsprechend den Zielen der Akteure im Mittelpunkt, die in Form von Verhandlungen, Austauschprozessen und Arbeitskämpfen eine Reihe von Institutionen (z.B. Tarifverhandlungen, Lobbyismus), Normen (z.B. zur Mitbestimmung oder zur Schlichtung von Arbeitskämpfen) und Verträgen (z.B. Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge) hervorgebracht hat.

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    Inhaltsverzeichnis

    1. Definitionen und Abgrenzung
    2. Merkmale und Prägungen
    3. Verfahren der Regelsetzung
    4. Organisationsprinzipien
    5. Langfristige Entwicklungen
    6. Stabilität und Wandel
    7. Internationalisierung, insbes. Europäisierung

    Definitionen und Abgrenzung

    Der Gegenstandsbereich der „Industrial Relations“, „Industrial and Labor Relations“ oder aktuell unter Betonung von Beschäftigungsproblemen auch „Employment Relations“ hat in der deutschsprachigen Literatur keine einheitliche Bezeichnung. Allmählich etablieren sich der Term „Industrielle Beziehungen“ sowie der in Bezug auf die Produktionssektoren neutralere Terminus technicus „Arbeitsbeziehungen“.

    Diese Forschungsrichtung ist in den USA seit der Zeit zwischen den Weltkriegen, in Großbritannien seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet und institutionalisiert, während sie sich in der Bundesrepublik Deutschland erst wesentlich später festigen konnte. Konstitutiv ist ihre multidisziplinäre Orientierung; die Beiträge stammen aus unterschiedlichen Disziplinen, v.a. der Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte. Weiterhin hat sie – v.a. in den USA – eine stark praxisorientierte bis pragmatische Ausrichtung, die in der Bundesrepublik kein Äquivalent findet. Weitgehend ungeklärt ist nach wie vor die Frage nach dem komplementären oder sich ausschließenden Verhältnis von Arbeitsbeziehungen und Human Resource Management (HRM) bzw. Personalwirtschaftslehre.

    Bei der Abgrenzung des Gegenstandsbereichs der Arbeitsbeziehungen hat die Setzung von Regeln zur Bestimmung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zentrale Bedeutung. V.a. in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Arbeitsbeziehungen häufig mithilfe von systemtheoretischen Konzepten analysiert; seit den 1980er-Jahren ist eher ein – auch ansonsten in den Sozialwissenschaften üblicher – Theorienpluralismus festzustellen (u.a. Institutionalismus, Handlungstheorien, politische Ökonomie). In handlungs- bzw. akteurszentrierter Betrachtungsweise lässt sich der Objektbereich definieren als Analyse des teils konsensuell, teils konfliktuell geprägten Beziehungsgeflechts (Konfliktpartnerschaft) innerhalb und zwischen den drei korporativen Akteuren:

    • Staat (in einem weit gefassten Verständnis staatlicher Instanzen unter Einschluss von Parlament und Arbeitsgerichten),
    • Arbeitgeber/Unternehmer (insbes. Management und Interessenverbände),
    • Arbeitnehmer (insbes. ihrer Interessenvertretungen Betriebsrat bzw. Gewerkschaft).

    Merkmale und Prägungen

    Charakteristisch für die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik ist im Gegensatz zu denen anderer Länder ihre ausgeprägte rechtliche Normierung. Zentrale Elemente ihrer umfassenden Verrechtlichung sind:

    • Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) (1952, novelliert 1972 und 2001) für die Betriebsebene,
    • Mitbestimmungsgesetze (Mitbestimmungsgesetz 1976, Drittelbeteiligungsgesetz 2004 sowie ältere Sonderregelungen für die Montanindustrie, u.a. 1951 und 1956) für die Unternehmensebene,
    • Tarifvertragsgesetz (TVG) (1949, novelliert 1969 und 1974) einschließlich der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie für die Austragung des Verteilungskonflikts,
    • Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), das 1998 das Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) bzw. dessen Vorläufer (Arbeitsförderungsgesetz (AFG)) ablöste und die Instrumente und Maßnahmen der Arbeitsförderung regelt (Arbeitsmarktpolitik).

    Diese Verrechtlichung umfasst neben Gesetzen eine umfangreiche Rechtsetzung durch Rechtsprechung zu zahlreichen Problemen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Das Arbeitskampfrecht stellt eine Ausnahme dar; es ist in Ermangelung gesetzlicher Regelungen weitestgehend sog. Richterrecht, d.h. durch Rechtsprechung v.a. des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sowie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), formuliert.

    Rechtliche Normierungen legitimieren Institutionen als Träger von Interessen und definieren deren Rechte und Pflichten, v.a. der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer. Auf dieser Basis entwickeln die korporativen Akteure allmählich einen verbindlichen Handlungsrahmen sowie eine gewisse Rechtssicherheit, die Handlungsfolgen sind eher kalkulierbar und leichter prognostizierbar. Langfristig erfolgt die Institutionalisierung des Klassengegensatzes bzw. des Verteilungskonflikts zwischen Kapital und Arbeit.

    Verfahren der Regelsetzung

    In international-vergleichender Perspektive sind Arbeitsbeziehungen entweder dual oder monistisch geprägt, d.h. sie verfügen, wie u.a. in der Bundesrepublik, über eine explizit-formale Trennung der betrieblichen und sektoralen Ebene bzw. ihrer Akteure und deren Handlungsoptionen oder sie kennen, wie v.a. in den angelsächsischen Ländern, diese Unterscheidung nicht. Von zentraler Bedeutung für die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik sind die Beziehungen zwischen betrieblicher und sektoraler Interessenvertretung:

    • Betriebsräte als gesetzlich verankerte, betriebliche Interessenvertretungen aller Beschäftigten (mit strikter Friedenspflicht und Festlegung auf die Maxime „vertrauensvoller Zusammenarbeit“ nach § 2 BetrVG),
    • Gewerkschaften als grundsätzlich freiwillige, überbetrieblich-sektorale Interessenvertretungen (ausgestattet mit dem rechtlich abgesicherten Streikmonopol nach Art. 9 III Grundgesetz (GG)).

    Innerhalb der dual geprägten Strukturen sind beide Institutionen rechtlich voneinander unabhängig. Faktisch sind sie aufeinander angewiesen und stehen häufig in einem engen und stabilen Verhältnis arbeitsteiliger Kooperation trotz formaler Kompetenzabgrenzungen.

    Folgen dieser Strukturentscheidungen sind v.a. eine gewisse „Vergewerkschaftung“ der Betriebsräte sowie die Existenz von de facto Closed Shops trotz eines formalrechtlichen Verbots dieser Sicherungsform in einigen zentralen Branchen. Auf betrieblicher Ebene dominieren häufig „Co-Management“ bzw. funktionale Kooperationsbeziehungen zwischen Betriebsräten und Management.

    Die Setzung kollektiver Regeln kann auf dreierlei, sich ergänzende Arten erfolgen:

    • unilateral (etwa durch das Management über sein Direktionsrecht oder durch den Staat per Gesetz),
    • bilateral (etwa durch Management und Betriebsrat in Betriebsvereinbarungen oder durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in Tarifverträgen),
    • trilateral (in Form tripartistischer Regulierungsversuche).

    Die Regeln können zwei Formen annehmen:

    • substantielle beziehen sich auf Inhalte (wie Entgelte oder Arbeitszeiten),
    • prozedurale beziehen sich auf Verfahren (wie Formen der Konfliktaustragung auf betrieblicher oder sektoraler Ebene).

    In soziologischer Perspektive sind diese Regeln

    • formale (v.a. durch Gesetze, Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen vorgegeben),
    • informelle (etwa zur Ergänzung oder Konkretisierung, durch Praxis, durch implizite Vereinbarungen).

    Schließlich ist eine rechtliche Unterscheidung von Konfliktformen relevant, die sowohl deren individuelle als auch kollektive Varianten umfasst:

    • Rechtskonflikte beziehen sich auf die Interpretation getroffener Verträge und werden – im Gegensatz zu anderen Ländern – ausnahmslos mit schiedlich-friedlichen Mitteln gelöst, ggf. unter Einschaltung der spezialisierten Arbeitsgerichte (einschl. Landes- und Bundesarbeitsgericht).
    • Regelungskonflikte beziehen sich auf den Abschluss neuer Verträge und können mithilfe legaler Mittel des Arbeitskampfes (Streik und Aussperrung) ausgetragen werden.

    Organisationsprinzipien

    Nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich die Gewerkschaften bei ihrem Wiederaufbau an zwei zentralen Organisationsprinzipien:

    • Zum einen am Prinzip des Branchen- bzw. Industrieverbandes, wonach es – im Gegensatz etwa zu Berufs- oder Betriebsverbänden – in einer Branche nur eine Gewerkschaft geben soll (Prinzip der Tarifeinheit),
    • zum anderen am Prinzip der Einheitsgewerkschaft, die – im Gegensatz zu Richtungsgewerkschaften – weltanschaulich/ideologisch und parteipolitisch grundsätzlich unabhängig und neutral bleiben soll.

    Aus diesen Grundsatzentscheidungen resultierte eine Zurückdrängung partikularer (betrieblicher, berufsständischer oder weltanschaulicher) Interessen sowie eine weitgehende Eliminierung zwischengewerkschaftlicher Konkurrenz. Sie nahm erst in den 2000er-Jahren in einigen Branchen des privaten Dienstleistungssektors durch das Erstarken von Berufsgewerkschaften (u.a. Ärzte, Lokomotivführer, Piloten) wieder zu. Das im Jahr 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz (TEG) hat dieser Entwicklung jedoch Einhalt geboten: Mit der Beschränkung des Gewerkschaftswettbewerbs zielt der Gesetzgeber auf eine (Re-)Stabilisierung und damit Bestandssicherung des Flächentarifsystems zulasten von durchsetzungsstarken Minderheiten. Das TEG begünstigt die Interessen der großen Gewerkschaften. Tarifkonkurrenz und Tarifkollisionen werden verhindert, indem sie nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip aufgelöst werden.

    Die Durchsetzung der zentralen Organisationsstrukturen förderte eine mit der hochgradigen Verrechtlichung korrelierende gewisse Zentralisierung bzw. geringe Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen. Parallele Entwicklungen aufgrund ähnlich gelagerter Interessen auf Seiten der Arbeitgeber begünstigten und verstärkten diese Entwicklung.

    Diese strukturellen Voraussetzungen verbesserten Effizienz und Effektivität der Tarifverhandlungen. Das Collective Bargaining-System trug durch seinen im internationalen Vergleich mittleren Zentralisierungsgrad mit regionalen (u.a. Metall, Chemie) oder sogar bundesweiten (u.a. öffentlicher Dienst) Verhandlungen zu einer gewissen Vereinheitlichung und Standardisierung von Entgelten und übrigen Arbeitsbedingungen ebenso bei wie staatliche Regelungen durch Gesetze und Rechtsprechung. Die Tarifverhandlungen wurden viele Jahre regional geführt, aber auf beiden Seiten von den Spitzenverbänden koordiniert; sog. Pilotabkommen, die traditionell v.a. in ausgewählen Bezirken der Metallindustrie abgeschlossen wurden, präjudizierten die übrigen Abschlüsse (Pattern Bargaining). Ein mittlerer Zentralisierungsgrad ging also einher mit einem hohen Grad an verbandlicher Koordinierung.

    Im Vergleich zur Arbeitnehmerseite sind die Verbandsstrukturen auf Arbeitgeberseite deutlich fragmentierter und ihre Zahl wesentlich größer, da u.a. aufgrund von Größenunterschieden eine erhebliche Interessenheterogenität innerhalb der Mitgliedschaft besteht. Ein wichtiges Merkmal ist – im Gegensatz zu denen in der Mehrzahl der anderen EU-Mitgliedsländer – die nach wie vor häufig vorhandene formale Trennung, aber faktisch enge Kooperation von Arbeitgeber- und Unternehmens- bzw. Wirtschaftsverbänden in wichtigen Branchen. Erstere sind speziell für die Tarifpolitik mit den Gewerkschaften, letztere allg. für die Wirtschaftspolitik bzw. die politische Interessenvertretung gegenüber staatlichen Agenturen zuständig.

    Die Dachverbände sind Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Die wichtigste Aufgabe von DGB und BDI besteht in der Vertretung der heterogenen Interessen ihrer Mitgliedsverbände im politischen Raum, u.a. durch Lobbyismus.

    Die Organisationsgrade von Verbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft (Art. 9 III GG) geben wichtige Informationen über die Ausschöpfung des Mitgliederpotenzials bzw. die Repräsentativität und dadurch die Einflussmöglichkeiten sowie die Legitimität. Sie sind – ähnlich wie in anderen EU-Ländern – traditionell wie aktuell auf Arbeitnehmerseite, wo sie mit weniger als 20% einen historischen Tiefstand erreicht haben, signifikant niedriger als auf Arbeitgeberseite, wo sie nach ebenfalls eingetretenen Rückgängen ca. 60% betragen.

    Langfristige Entwicklungen

    Die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen mit der korrespondierenden Macht- und Kompetenzverteilung wurde in den Nachkriegsjahrzehnten des "Wirtschaftswunders" geprägt durch

    • günstige gesamtwirtschaftliche Bedingungen (lange Prosperitätsphasen mit hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. des Bruttonationaleinkommens (BNE)) sowie Arbeitsmärkte, die gekennzeichnet waren durch sinkende Arbeitslosigkeit bzw. phasenweise sogar durch Vollbeschäftigung
    • sowie bestimmte politische Konstellationen (v.a. sozialliberale Koalitionen mit gewerkschaftsfreundlicher Gesetzgebung sowie trilateralen Versuchen (antizyklischer) keynesianischer Globalsteuerung) (Beschäftigungstheorie, Beschäftigungspolitik, Keynesianismus).

    Diese polit-ökonomischen Voraussetzungen trugen wesentlich zur allmählichen Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates bei (Modell Deutschland). Die Tarifpartner konnten mit freiwillig-autonomen Abkommen – wie Schlichtungsvereinbarungen zur Lösung kollektiver Regelungskonflikte in allen wichtigen Branchen – diese Basis verbreitern sowie die Voraussetzungen für eine überwiegend „kooperative“ Tarifpolitik schaffen. Weiterhin sind die Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik – auch im internationalen Vergleich der EU- bzw. OECD-Länder – sowohl traditionell als auch aktuell durch ein sehr niedriges Konfliktniveau charakterisiert; Aussperrungen spielten lediglich bis in die 1980er-Jahre eine wichtige Rolle, Streiks finden nur sporadisch statt.

    Die Bedeutung des Staates als korporativer Akteur der Arbeitsbeziehungen nahm in den langen Prosperitätsphasen nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Zunächst formulierte er die rechtlich-institutionellen Ausgangs- bzw. Rahmenbedingungen, einschl. des Prinzips der Tarifautonomie. Bes. in den späten 1960er- und 1970er-Jahren gab es einen Tripartismus in korporatistischen Verbünden zwischen staatlichen Agenturen und gewerkschaftlichen bzw. unternehmerischen Verbandseliten (Konzertierte Aktion, 1967-1977). Diese Verbünde waren auf relative Dauer angelegte, mehr oder weniger deutlich institutionalisierte und formalisierte, häufig von der Regierung initiierte und stabilisierte, vorwiegend politisch organisierte Tauschbeziehungen.

    Der in den 1980er-Jahren erfolgte wirtschaftspolitische Strategiewechsel von nachfrage- zu angebotsorientierten Politiken bzw. vom Keynesianismus zum Monetarismus leitete eine Trendwende bzw. einen allmählichen Verfall makrokorporatistischer Regulierungsbemühungen ein. Spätere Versuche ihrer Revitalisierung in Form von Sozialpakten (wie das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit der frühen 2000er-Jahre) waren nur in begrenztem Maße erfolgreich.

    Ordnungspolitisch begründete Vorstöße seitens des Staates, nunmehr Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen gleichermaßen zu deregulieren, finden – in unterschiedlicher Intensität – in verschiedenen Ländern statt; sie sind in den angelsächsischen Ländern deutlicher ausgeprägt als in der Bundesrepublik. Ihre Ergebnisse stimmen weder mit den Erwartungen der Propagandisten noch mit den Befürchtungen der Gegner überein.

    In dieselbe Richtung eines neuen, dezentraleren Regelungsmodus auf betrieblicher Ebene wirken verschiedene Strategien von Unternehmen bzw. Management zur Flexibilisierung der Beschäftigungsbedingungen. Sie bezogen sich in den 1980er-Jahren zunächst auf die Entkoppelung individueller Arbeits- und betrieblicher Anlagennutzungszeiten mit dem Ziel einer längeren Anlagennutzungsdauer, u.a. durch Einführung und Ausbau von Arbeitszeitkonten (Arbeitszeitpolitik, Arbeitszeitflexibilisierung); später erfolgte auch eine Flexibilisierung der Entgelte (u.a. variable, z.T. leistungsorientierte Entlohnung) (leistungsbezogene Entgelte) sowie der Arbeitsorganisation mit dem Ziel einer Reduzierung der Arbeitskosten. Insbes. die Dezentralisierung und Individualisierung der Lohnfindung sehen einige Beobachter als den Hauptgrund für ein wirtschaftlich erstarktes Deutschland seit Mitte der 2000er-Jahre, während andere die Lohnzurückhaltung kritisieren. Die Bundesrepublik hat die Folgen der (globalen) Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 schneller und besser überwunden als andere EU-Mitgliedsländer.

    Stabilität und Wandel

    Die Arbeitsbeziehungen der Bundesrepublik erwiesen sich in den 1980er-Jahren – auch im internationalen Vergleich – als überraschend stabil und anpassungsfähig. Diese Konstellation wandelt sich seit den 1990er-Jahren allmählich und hat sich inzwischen deutlich verändert. Die Ursachen sind mehrere, zunächst national bedingte bzw. ausgelöste Entwicklungen:

    • Im Prozess der deutschen Vereinigung erfolgte die Eingliederung einer sozialistischen zentralen Plan- in eine kapitalistische soziale Marktwirtschaft. Die korporativen Akteure übertrugen die bestehenden Institutionen und Prinzipien der Arbeitsbeziehungen vollständig und unverändert auf die neuen Bundesländer. Nach anfänglichen, erstaunlichen Erfolgen kam es zu anhaltenden Problemen: fehlende praktische Erfahrungen im Umgang mit Regeln und Institutionen, verschlechterte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die zu hohen sozialen und ökonomischen Kosten im Osten sowie mittelfristig zu Rückwirkungen auch im Westen führten, andauernde, aus ökonomischen Gründen notwendige Unterschiede in den Tarifpolitiken, welche die ursprünglich erhoffte rasche Angleichung der Einkommens- und übrigen Arbeitsbedingungen unmöglich machten.
    • Mit der Abnahme der Bedeutung industriell-standardisierter Massenproduktion einher ging eine abnehmende Bedeutung des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses bzw. eine Zunahme atypischer Beschäftigungsformen (u.a. Teilzeit, geringfügige Beschäftigung bzw. Mini-Jobs, Midi-Jobs, Befristung, Leiharbeit, Solo-Selbstständigkeit) (Atypische Beschäftigung). Sie machen inzwischen nahezu 40% aller Beschäftigungsverhältnisse in der Bundesrepublik aus, sind mit erheblichen Prekaritätsrisiken verbunden (Einkommen, Beschäftigungsstabilität, Beschäftigungsfähigkeit, soziale Sicherung) und verschärfen die Segmentation der Arbeitsmärkte. Die Integration dieser Arbeitnehmer in die Tarifpolitik erweist sich als ebenso schwierig wie ihre Organisierung. 
    • Der wirtschaftliche und soziale Strukturwandel setzt sich fort. Die Schwerpunkte verlagern sich von der tayloristisch-fordistischen zur post-fordistischen Produktionsweise bzw. vom sekundären Sektor der Industrie zum tertiären der Dienstleistungen. Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stehen die noch nicht absehbaren Folgen der umfassenden Digitalisierung („Arbeit 4.0“). 

    Die Folge dieser Entwicklungen auf Produkt- und Arbeitsmärkten sind erhebliche Veränderungen nicht nur der Arbeitsprozesse und -organisation sondern auch der Arbeitsbeziehungen:

    • Die Verbände beider Tarifparteien stehen seit Mitte der 1990er-Jahre vor massiven Organisationsproblemen, die zu Gegenmaßnahmen führten. Die Gewerkschaften haben erhebliche Mitgliederverluste und dadurch bedingte Finanzierungsprobleme zu bewältigen, auf die sie in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – mit einer Reihe von Zusammenschlüssen zu Multibranchengewerkschaften sowie seit Mitte der 2000er-Jahre mit Revitalisierungsstrategien reagierten. Die Arbeitgeberverbände haben mit Verbandsabstinenz neuer Unternehmen, Verbandsaustritten sowie stiller Tarifflucht, d.h. Nicht-Einhaltung getroffener Regelungen trotz andauernder Verbandsmitgliedschaft, zu tun; sie reagierten u.a. mit der Einführung eines zusätzlichen bzw. neuen Status, nämlich einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung in bestehenden Verbänden (sog. OT-Mitgliedschaft), sowie der Gründung eigenständiger Verbände ohne Tarifbindung (sog. Parallelverbände). Diese Praxis ist inzwischen weit verbreitet.
    • Seit Mitte der 1980er-Jahre erfolgt eine allmähliche Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen, wobei analytisch zwei Varianten zu unterscheiden sind: Bei der kontrollierten bzw. organisierten steuern die korporativen Akteure der sektoralen Ebene diese Entwicklung mit dem Ziel einer Stabilisierung bzw. Weiterentwicklung des Tarifvertragssystems; bei der nicht-kontrollierten bzw. nicht-organisierten („wilden“) werden bestehende Regelungen faktisch nicht eingehalten. Dadurch erfolgt langfristig eine Systemänderung oder sogar ein Systemwechsel.

    Die in verschiedenen Ländern stattfindenden Prozesse der Dezentralisierung sind auch in der Bundesrepublik inzwischen weit fortgeschritten:

    • Neben das etablierte System der Flächen- bzw. Verbandstarifverträge tritt eine wachsende Zahl von Haus- bzw. Firmentarifverträgen, die v.a. in kleinen und mittelständischen Unternehmen, in privaten Dienstleistungsbranchen sowie in den neuen Bundesländern geschlossen werden.
    • Außerdem gibt es verschiedene Formen sowie eine zunehmende Zahl von Öffnungsklauseln als Verfahren zu Abweichungen bzw. zur Anpassung von Regelungen in Flächentarifverträgen an betriebsspezifische Bedingungen (u.a. zunächst der Arbeitszeiten, später auch der Entgelte); ihre inzwischen weite Verbreitung belegt einen hohen Grad an Flexibilität des heterogenen Tarifvertragssystems.
    • Die Bedeutung der betrieblichen Akteure und ihrer Handlungsoptionen für die Arbeitsbeziehungen nimmt im Prozess der Dezentralisierung zu, ihre Aufgaben werden mehr und vielfältiger („Verbetrieblichung“): Zahl und Bedeutung von Betriebsvereinbarungen, die als betriebsspezifische Regelungen zwischen Management und Betriebsrat geschlossen werden, steigen an; enge Interessenkoalitionen, die sich u.a. im Abschluss von „betrieblichen Bündnissen für Arbeit“ dokumentieren, kommen häufiger vor.

    Diese langfristigen Entwicklungen lassen sich durch die in der aktuellen Literatur üblichen Indikatoren verdeutlichen:

    • Die tariflichen Deckungsraten, d.h. der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag erfasst werden, nahmen seit den mittleren 1990er-Jahren deutlich ab (im Westen von mehr als 70% auf weniger als 60%, im Osten von mehr als 60% auf weniger als 40%). Branchentarifverträge (West 51%, Ost 36%) sind deutlich wichtiger als Haus- bzw. Firmentarifverträge (West 7%, Ost 11%). Erhebliche Unterschiede bestehen zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen. Ein zunehmender Teil der Beschäftigten (West 40%, Ost 54%) wird nicht von einem Tarifvertrag erfasst; eine freiwillige „Orientierung am Branchentarifvertrag“ ist ein unzureichender Ersatz und umfasst nur für die Hälfte dieser Beschäftigtengruppe. Daher ist häufig von einer „Krise“, gelegentlich sogar vor einer „Erosion“ der Arbeitsbeziehungen die Rede.
    • Die betrieblichen Deckungsraten, d.h. der Anteil der Beschäftigten, die über eine Interessenvertretung verfügen, gehen seit Mitte der 1990er-Jahre ebenfalls deutlich zurück (West 43%, Ost 34%). In zahlreichen Betrieben bestehen Vertretungslücken: Es existiert keine Interessenvertretung, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Einrichtung erfüllt sind. Neben Betriebsräten bestehen alternative Formen der Mitarbeitervertretung (16%), die v.a. in kleinen und mittelständischen Betrieben auf freiwilliger Basis eingerichtet werden; strittig ist, ob diese Formen tatsächlich als funktionale Äquivalente zu Betriebsräten anzusehen sind. 

    Fazit: Die für den Zeitraum seit Mitte der 1990er-Jahre vorliegenden Paneldaten zeigen, dass die Vertretungslücken (sog. weiße Flecken) sowohl auf betrieblicher als auch auf sektoraler Ebene größer werden. Die Arbeitsbeziehungen sind aktuell in geringerem Maße durch eine duale Struktur geprägt als dies in der Vergangenheit der Fall war; nur eine Minderheit der Beschäftigten (West 34%, Ost 24%) wird sowohl durch einen Tarifvertrag als auch durch einen Betriebsrat erfasst. Diese Transformation vollzieht sich nicht disruptiv sondern inkrementell und ohne wesentliche Änderungen der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen, ihre Folgen sind jedoch kumulativ und verändern die Arbeitsbeziehungen grundlegend. Insofern bestehen empirisch begründete Zweifel, ob im Rahmen des vielfach diskutierten Kapitalismusmodells (Varieties of Capitalism) die Bundesrepublik noch zu den koordinierten Marktwirtschaften zu zählen ist, als deren Beispiel sie bis in die 2000-er Jahre galt, oder nicht – bes. in privaten Dienstleistungssektoren, nicht hingegen in den industriellen Kernsektoren – deutliche Merkmale einer liberalen Marktwirtschaft angenommen hat. Eine (schleichende) Bedrohung des deutschen Modells ergibt sich ebenfalls aus der wachsenden Segmentation und Ungleichheit am Arbeitsmarkt (Arbeitsmarkttheorien, Arbeitsmarktpolitik).   

    Zwischen den 1990er- und mittleren 2000er-Jahren haben die Entgeltunterschiede – und dadurch die Unterschiede der Lebensbedingungen und letztendlich die soziale Ungleichheit – zugenommen; seit der Finanz- und Wirtschaftskrise öffnet sich diese Schere nicht weiter, verbleibt aber auf hohem Niveau. Der Niedriglohnsektor, der gemäß international akzeptierter Definition Entgelte von weniger als zwei Drittel des nationalen Medianbruttoverdienstes (aller Vollzeitbeschäftigten) pro Stunde bzw. pro Monat umfasst, expandierte deutlich und hat (mit inzwischen über 20%) ein im Vergleich der EU-Mitgliedsländer überproportional großes Ausmaß erreicht. Eine Reaktion ist die 2015 erfolgte Einführung eines allgemein geltenden, gesetzlichen Mindestlohns (Mindestlohn).

    Internationalisierung, insbes. Europäisierung

    Weitere Veränderungen bzw. Anpassungen der Arbeitsbeziehungen werden durch externe Faktoren, v.a. durch Prozesse der Internationalisierung in Form von Europäisierung, verursacht. Nach der Vollendung des Binnenmarktes zu Beginn sowie der Wirtschafts- und Währungsunion Ende der 1990er-Jahre offenbart sich das Problem der Entwicklung supranationaler Arbeitsbeziehungen mit dem Ziel der Formulierung verbindlicher sozialer Mindeststandards, nicht der Vereinheitlichung unterschiedlicher nationaler Regelungen. Die Schaffung einer „sozialen Dimension des Binnenmarktes“ bzw. eines „europäischen Sozialmodells“ steht nach wie vor vor folgenden Schwierigkeiten:

    • Nach jahrzehntelangen, nicht konsensfähigen Versuchen sieht eine Richtlinie (1994, novelliert 2009) vor, dass in „gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen“ mit mindestens 1.000 Beschäftigten supranationale betriebliche Interessenvertretungen zur „Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer“ eingerichtet werden. Sie sollen vorhandene nationale Arbeitnehmervertretungen nicht ersetzen, sondern ergänzen; ihre grenzüberschreitenden Befugnisse werden nicht zentral-einheitlich vorgegeben, sondern auf Ebene der multinational tätigen Unternehmen verhandelt. Insgesamt bestehen über 1.000 aktive Europäische Betriebsräte (EBR), was einer Deckungsrate, bezogen auf die EBR-fähigen Unternehmen, nicht deren Beschäftigten, von gut einem Drittel entspricht. Die einzelnen EBR befinden sich in recht unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung, ihre Rechte sind deutlich geringer als die nationaler Betriebsräte .
    • Die nationalen Dachverbände der Tarifvertragsparteien haben sich auf europäischer Ebene zu Businesseurope (vormals: Union des Industries de la Communauté Européenne (UNICE)) bzw. Europäischem Gewerkschaftsbund (EGB) zusammengeschlossen. Auf sektoraler Ebene bestehen Zusammenschlüsse der nationalen Gewerkschaften, nicht hingegen aller Wirtschafts- bzw. Arbeitgeberverbände. Transnationale Kollektivverhandlungen finden nicht statt.
    • Auf absehbare Zukunft sind die europäischen Dachverbände, v.a. aber deren sektoral-supranationalen Mitgliedsverbände, kaum aktions- und politikfähig zwecks Gestaltung der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik. Die Sozialpartner nutzen ihre durch Änderungen der EU-Verträge (Art. 154-155 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) erheblich erweiterten Handlungsmöglichkeiten im Rahmen von zentralen bzw. sektoralen Sozialdialogen wegen andauernder Interessengegensätze kaum aus; die Zahl der Vereinbarungen, die für die Sozialpartner verbindlich sind, bleibt auf beiden Ebenen gering.
    • In der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik verfügte die EU traditionell über keine eigenen Kompetenzen. Seit Ende der 1990er-Jahre besteht ein eigenständiges Beschäftigungskapitel (Art. 145-150 AEUV), welches die supranationale Koordinierung der nationalen Politiken fördern soll. Die Umsetzung der mehrfach veränderten beschäftigungspolitischen Leitlinien (u.a. Erhöhung der Beschäftigungsquote, Förderung lebenslangen Lernens, Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut) erfolgt national (Europäische Beschäftigungspolitik). Die Beschäftigungsstrategie ist inzwischen Teil der Wachstumsstrategie 2020, ihre Umsetzung erfolgt im Rahmen des mehrstufigen Verfahrens zur wirtschaftspolitischen Koordination und Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe (Europäisches Semester).

    Die seit den 1990er-Jahren beschleunigten Tendenzen zur Globalisierung von Faktor- und v.a. Kapitalmärkten können infolge der erhöhten Mobilitätschancen von Kapital sowie der zunehmenden grenzüberschreitenden Aktivitäten von Unternehmen zur Entgrenzung und zunehmenden Instabilität nationaler Arbeitsbeziehungen sowie zu Veränderungen ihrer Regulungsmodi führen. Allerdings sind die unterschiedlichen Motive und empirisch zu beobachtenden Effekte der Auslandsaktivitäten von gängigen Fiktionen im Hinblick auf die Erzielung von Effizienzgewinnen, Gerechtigkeitsüberlegungen und nachhaltigem Wachstum zu trennen. Allmählich an Bedeutung gewinnen internationale (europa- oder weltweite) Rahmenvereinbarungen auf der Ebene transnational tätiger Unternehmen. 

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