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Wirtschaftsverfassung
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Das Original: Gabler Wirtschaftslexikon
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1. Begriff: Der Begriff stammt aus der jüngeren historischen Schule und wurde dort meist gleichbedeutend mit verwandten Begriffen wie Wirtschaftsstil, Wirtschaftsstufe, Wirtschaftssystem oder Wirtschaftsordnung gebraucht. Aufgegriffen wurde er in den 1930er-Jahren von Vertretern der Freiburger Schule (Böhm, Eucken), die ihn zur Bezeichnung eines eigenständigen Wirtschaftsverfassung-Konzepts benutzten.
Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftlehre haben in der Folge unterschiedliche Schwerpunkte bei der Diskussion dieses Konzepts gesetzt. Grundsätzlich trägt das Konzept in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen der Tatsache Rechnung, dass alle Interaktionsprozesse im Rahmen des gesellschaftlichen Wirtschaftens durch Regeln gesteuert werden. Soweit diese Regeln durch den Staat gesetzt sind (externe Institutionen), lassen sie sich als Teil der Wirtschaftsverfassung bezeichnen.
a) Ökonomisch wird zwischen einem deskriptiven und einem funktionalen Wirtschaftsverfassungsbegriff unterschieden:
(1) Der deskriptive Begriff umfasst alle durch den Gesetzgeber erlassenen Rechtsregeln, die in Form von Ge- und Verboten die ökonomischen Aktivitäten der Rechtssubjekte beeinflussen.
(2) Der funktionale-Begriff bezieht sich auf diejenigen Rechtsregeln, die für ein bestimmtes Wirtschaftssystem, i.d.R. die Marktwirtschaft, als konstitutiv gelten.
b) Die juristische Diskussion von Wirtschaftsverfassung konzentriert sich auf den deskriptiven Begriff und unterscheidet:
(1) Wirtschaftsverfassung i.e.S. bezieht sich ausschließlich auf die entsprechenden Regeln, die in der Verfassungsurkunde festgehalten sind.
(2) Wirtschaftsverfassung i.w.S. erstreckt sich zusätzlich auf alle anderen wirtschaftlich relevanten und in sonstigen Gesetzen und Verordnungen fixierten Regelungen.
2. Leitgedanken des Konzepts der Wirtschaftsverfassung: Ausgangspunkt der funktionalen Sicht von Wirtschaftsverfassung waren die Arbeiten von Böhm und Eucken, die Wirtschaftsverfassung übereinstimmend als „Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens” bezeichnen (Ordnungsökonomik). Sie beziehen diese „Gesamtentscheidung” auf ihre idealtypische Unterscheidung von Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft, um darauf hinzuweisen, dass die unterschiedlichen Systemeigenschaften dieser Wirtschaftssysteme entsprechend unterschiedliche rechtliche Beziehungen und Rechtsregeln implizieren. Dies ermöglicht umgekehrt eine analytische Verknüpfung von deskriptivem und funktionalem Begriff: Wirtschaftsverfassung im funktionalen Sinn kann bei der Analyse real beobachtbarer Wirtschaftsverfassungen im deskriptiven Sinn als Referenzmaßstab dienen, um die funktionale Qualität der beobachtbaren Rechtsregeln zu beurteilen. In diesem Sinn lassen sich also z.B. Aussagen darüber treffen, inwieweit die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland den funktionalen Anforderungen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung entspricht. Darüber hinaus sind Aussagen über die möglichen Folgen einer Diskrepanz zwischen Referenzmaßstab und zu beobachtender Wirtschaftsverfassung ableitbar.
3. Inhalte einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung: Die funktionalen Anforderungen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung ergeben sich aus grundlegenden Eigenschaften eines marktwirtschaftlichen Systems. Danach müssen die Regeln dazu beitragen, Selbstkoordination und Selbstkontrolle zu erleichtern bzw. zu sichern. Sie müssen dabei so ausgestaltet sein, dass die Handlungsfreiheit der ökonomischen Akteure gewährleistet und ihr Wissensbedarf reduziert wird. Diese Anforderungen können unter den Begriff der Universalisierbarkeit subsumiert werden. Universalisierbare Regeln sind:
(1) Allgemein gültig, d.h. sie finden ausnahmslos und unbefristet auf alle Wirtschaftssubjekte Anwendung; (2) offen oder abstrakt, d.h. sie untersagen nur solche Handlungen, die für die Handlungsfreiheit anderer als erheblich erkannt wurden, und lassen damit eine unbekannte Zahl von Handlungsmöglichkeiten zu;
(3) bestimmt oder gewiss, d.h. auf ihr Fortbestehen kann vertraut werden, und sie untersagen nur solche Handlungen, die von Umständen abhängen, die zu kennen oder festzustellen vernünftigerweise von den Betroffenen erwartet werden kann.
Vor dem Hintergrund des konstitutionellen Wissensmangels aller Wirtschaftssubjekte erfüllt die Universalisierbarkeit von Rechtsregeln zwei Funktionen: Danach gestaltete Regeln stabilisieren Erwartungen und halten das Marktsystem offen für neu entwickelte Handlungsmöglichkeiten.
In diesem Sinn liegt der Zweck einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung darin, institutionelle Vorkehrungen zur Sicherung von marktlicher Selbstkoordination und Selbstkontrolle bereitzustellen. Selbstkoordination erfordert, dass durch den Gesetzgeber:
(1) Private Eigentumsrechte als Tauschobjekte und als Elemente der Begrenzung individueller Einflusssphären definiert und gesichert werden, welche von den Inhabern derartiger Rechte in eigener Verantwortung genutzt werden können;
(2) die Autonomie aller Wirtschaftssubjekte in dem Sinn hergestellt wird, dass ihnen gleicher Rechtsstatus verliehen wird. Dies veranlasst sie, in all jenen Fällen, in denen sie bei der Verfolgung ihrer individuellen (wirtschaftlichen) Ziele auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen sind, ihre Wirtschaftspläne nur durch Aushandeln von Verträgen zu koordinieren;
(3) die wirtschaftliche Freiheit privater Akteure garantiert wird, indem ihnen entsprechende wirtschaftliche Grundrechte gewährt werden, die vor staatlicher Einflussnahme geschützt sind. Die Selbstkoordination dezentral handelnder ökonomischer Entscheidungsträger erfordert also die Herstellung und Sicherung dessen, was Hume als „Sicherheit des Besitzes, Übertragung durch Zustimmung und Erfüllung von Versprechungen” beschrieben hat. Die entsprechenden Rechtsregeln sind wichtige Bestandteile des Privat- bzw. Bürgerlichen Rechts. Selbstkontrolle durch die Vornahme von Wettbewerbshandlungen erfordert Handlungsfreiheit. Diese Freiheit schließt die Möglichkeit ein, sich nicht wettbewerblich zu betätigen. Sie kann aber ebenso benutzt werden, um die Wettbewerbsfreiheit anderer einzuschränken. Solche Handlungen sind möglichst zu verhindern.
4. Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes: Im Sinn des deskriptiven Begriffs wurde in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland heftig darüber diskutiert, ob das Grundgesetz eine bestimmte Wirtschaftsverfassung vorschreibt. Auf der einen Seite wurde, bes. von Nipperdey, argumentiert, das Grundgesetz gewährleiste die Wirtschaftsverfassung der Sozialen Marktwirtschaft. Die andere Seite, vertreten v.a. durch Abendroth und Krüger, postulierte die „wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes”: Danach setze das Grundgesetz dem Gesetzgeber keinerlei Schranken bei der Ausgestaltung der Wirtschaftsverfassung es lasse also eine liberale wie eine sozialistische Wirtschaftsverfassung zu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem sog. Investitionshilfeurteil von 1954 weder der einen noch der anderen Auffassung angeschlossen. Es hat dem Gesetzgeber allerdings einen weiten Ermessensspielraum zugestanden, soweit dieser die im Grundgesetz festgelegten Grenzen beachtet. Diese bestehen zum einen in der Gewährung wirtschaftlicher Freiheitsrechte durch die Verfassung (v.a. (wirtschaftliche) Handlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit), zum anderen im Sozialstaatlichkeitspostulat des Grundgesetzes. In dem Sinn sind nur die „reine” Marktwirtschaft und die Zentralverwaltungswirtschaft durch das Grundgesetz ausgeschlossen.
Aus ökonomischer Sicht ist der Streit über die Wirtschaftsverfassung. des Grundgesetzes von geringer Bedeutung. Aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit dürfte das Konzept einer sozialen Marktwirtschaft mit den vom Bundesverfassungsgericht niedergelegten Grundsätzen im Wesentlichen übereinstimmen.
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