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Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)

Definition: Was ist "Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR)"?

zentrale gesamtwirtschaftliche Statistik, die quantitativ das Wirtschaftsgeschehen eines Wirtschaftsgebietes für eine abgelaufene Periode darstellt. Sie besteht aus mehreren Strom- und Bestandsrechnungen, die systematisch erstellt und aufeinander abgestimmt ein System VGR ergeben.

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    Inhaltsverzeichnis

    1. Kurzübersicht
    2. Zentrale Aspekte
      1. Charakterisierung
      2. Aufgaben
      3. Aufstellung
      4. Bruttoinlandsprodukt (BIP)
      5. Konten und Tabellen
      6. Input-Output-Rechnung
      7. Vermögensrechnung
      8. Finanzierungsrechnung
      9. Satellitensysteme
      10. Geschichte
    3. „Beyond GDP“

    Kurzübersicht

    Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) erstellt ein quantitatives Gesamtbild des wirtschaftlichen Geschehens. Hierzu erarbeitet sie ein aus der Logik eines Kreislaufschemas hergeleitetes Rechenwerk, das – aus mehreren Teilrechnungen bestehend – eine umfassende und hinreichend gegliederte Darstellung aller geleisteten Wirtschaftstätigkeit anstrebt.

    Zentrale Aspekte

    Charakterisierung

    Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung besteht aus der Inlandsprodukts- und Nationaleinkommensberechnung sowie der Input-Output-Rechnung, der Vermögens-, Außenwirtschafts-, Erwerbstätigen-, Arbeitsvolumen- und Finanzierungsrechnung. Alle Teilrechnungen zusammen bilden das Wirtschaftsgeschehen eines Wirtschaftsgebietes für eine abgelaufene Periode in seiner quantitativen Gesamtheit ab und ergeben als systematisch erstellte, aufeinander abgestimmte und miteinander verflochtene Strom- und Bestandsrechnungen das Gesamtsystem der VGR. Die ermittelten Werte werden in Form eines Kontensystems erfasst und als Tabellen dargestellt.

    Den Kern bilden dabei die Berechnung der Entstehung, Verteilung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und des Bruttonationaleinkommens (BNE) sowie die Darstellung der Umverteilungs- und Vermögensbildungsvorgänge. Das BIP (engl.: GDP, Gross Domestic Product) gilt als wichtigstes Produktionsmaß, das BNE (engl.: GNP, Gross National Product) als zentrales Einkommensmaß. Die Veränderung des Inlandsprodukts zum Vorjahr dient als Maß der Entwicklung einer Volkswirtschaft. Die Darstellung der Ströme wird ergänzt durch die Finanzierungsrechnung und die Input-Output-Tabellen. Darüber hinaus enthält die VGR Angaben über die Produktionsfaktoren in verschiedener Abgrenzung, wie etwa zu Erwerbstätigen, Arbeitnehmern, Erwerbslosen, Erwerbspersonen oder dem Kapitalstock. Die letztgenannte Größe ist der Vermögensrechnung entnommen, die den Bestand an Vermögensgütern (Sach- und immaterielle Güter) sowie an Forderungen und Verbindlichkeiten innerhalb der Wirtschaftsbereiche und gegenüber dem Ausland nachweist. Wichtigste Komponente der Außenwirtschaftsrechnung ist die Zahlungsbilanz, in der die Güter- und Kapitalströme zwischen Inländern und Ausländern aufgezeichnet werden. Über diesen Kern der VGR hinaus können wirtschaftspolitisch bedeutsame Fragestellungen in sogenannten Satellitensystemen zur VGR dargestellt werden. Hier sind die Datensysteme teilweise vorläufiger oder experimenteller Natur, werden nicht mit gleicher Regelmäßigkeit bereitgestellt, sind offen für Änderungen und teilweise dadurch gekennzeichnet, dass sie auch qualitative Aussagen, nicht aber die Bildung von Wertgrößen zulassen.

    Aufgaben

    Die VGR stellt die Datengrundlage für gesamtwirtschaftliche Analysen und Prognosen in verschiedenen Bereichen der makroökonomischen Theorie und Politik bereit, so etwa zur Analyse der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, des Wirtschaftswachstums, der Produktivität oder der Wirtschaftsstruktur. Ferner liegt sie regionalen oder sektoralen Analysen, internationalen Vergleichen oder Verteilungsforschungen zugrunde und dient bei gesamtwirtschaftlichen Fragestellungen als Entscheidungsgrundlage. Auch für die mittelfristige Finanzplanung (= mehrjährige Finanzplanung) und die Steuerschätzung sind die Daten der VGR unentbehrlich. Eine neuere Aufgabe resultiert daraus, dass als vierte Eigenmittelquelle der Europäischen Union (EU) ein bestimmter Prozentsatz des nationalen BIP der Mitgliedsstaaten festgelegt wurde. Darüber hinaus werden die Daten der VGR auch herangezogen, um die Einhaltung der Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts (EU-Stabilitätspakt) zu überprüfen. Dies führte zu einer stärkeren Harmonisierung der VGR-Angaben als gemeinschaftliche Aufgabe.

    Aufstellung

    (1) Ausgangspunkt der Aufstellung der VGR ist die Vorstellung eines Wirtschaftskreislaufs als Versuch, alle wirtschaftlichen Transaktionen und sonstigen Vorgänge einer Volkswirtschaft systematisch darzustellen. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Abgrenzung des Wirtschaftsgebiets, die Bestimmung der Darstellungseinheit als Grundlage für die Bildung von Wirtschaftszweigen und Sektoren sowie die Auswahl und Erfassung der einzubeziehenden Transaktionen und sonstigen Vorgänge samt ihrer Definition, Abgrenzung, Bewertung und Periodisierung. In Ergänzung und Abstimmung hierzu wird die Vermögensrechnung erstellt.

    (2) Wirtschaftsraum und Sektoren: Der relevante Wirtschaftsraum kann die nationale Volkswirtschaft oder ein engeres Wirtschaftsgebiet (Region) sein. Für den jeweiligen Raum werden Aggregate gebildet, vor allem Wirtschaftszweige und Sektoren, die aus nach unterschiedlichen Gesichtspunkten abgegrenzten, rechtlich selbstständigen Wirtschaftseinheiten (sogenannten statistischen Einheiten) bestehen. So sind für die Sektorbildung institutionelle Einheiten maßgeblich, die wirtschaftliche Entscheidungsträger sind und ein vollständiges Rechnungswesen mit Informationen über die Verwendung/Verteilung des Betriebsüberschusses vorlegen. Auf dieser Grundlage werden Kapitalgesellschaften, Staat, private Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbszweck unterschieden. Diese Sektoren bilden die gesamte Volkswirtschaft, der die übrige Welt gegenübergestellt wird. Für die Entstehungsrechnung werden produktionsseitig die Wirtschaftszweige betrachtet.

    Bruttoinlandsprodukt (BIP)

    Im Mittelpunkt der VGR steht die Ermittlung des BIP in der Entstehungsrechnung sowie der Verwendungsrechnung, ergänzt um die Verteilungsrechnung. In der Entstehungsrechnung wird i.d.R. ausgehend vom Produktionswert die Bruttowertschöpfung der einzelnen Wirtschaftsbereiche dargestellt. Die Summe der Bruttowertschöpfungen ergibt (nach einigen Korrekturen) das BIP. Die Verwendungsrechnung gibt Auskunft über die Verwendung der produzierten Güter. Sie zeigt die Konsumausgaben der privaten Haushalte, der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck und des Staates sowie die Bruttoanlageinvestitionen, Vorratsveränderungen, den Nettozugang an Wertsachen und den Außenbeitrag. Die Verteilungsrechnung spaltet das Aggregat Volkseinkommen in Arbeitnehmerentgelt sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen auf, das Inländern zugeflossen ist.

    Konten und Tabellen

    Über die Darstellung des BIP hinaus enthält die VGR eine Vielzahl von Übersichts- und Standard-Tabellen. Diese stellen die Umverteilungs-, Vermögensänderungs- und Finanzierungsvorgänge dar. Die Daten werden als Jahres-, Halbjahres- und (eingeschränkt) Vierteljahreswerte (letztere auch saisonbereinigt) nachgewiesen. Die Angaben der Entstehungs- und Verwendungsrechnung werden sowohl in jeweiligen Preisen wie in konstanten Preisen des Vorjahres berechnet (reales Inlandsprodukt). Im Kontensystem der VGR wird ersichtlich, wie die einzelnen Teile von der Güterproduktion bis zur Veränderung der Forderungen und Verbindlichkeiten zusammenhängen. Es gibt folgende Konten:

    (a) Ein zusammengefasstes Güterkonto, das einen umfassenden Überblick über die Herkunft und Verwendung der Güter in der Volkswirtschaft gibt;

    (b) Sektorkonten, die jeweils einen Ausschnitt des wirtschaftlichen Geschehens abbilden: Produktionskonten, Einkommensentstehungskonten, primäre und sekundäre Einkommensverteilungskonten, Einkommensverwendungskonten, Konten der Reinvermögensänderung;

    (c) Außenkonten, die die Transaktionen zwischen gebietsansässigen und gebietsfremden Einheiten (übrige Welt) ausweisen.

    Bezieht man die Produktion oder das Einkommen auf andere Größen, erhält man wichtige Indikatoren. So ist die Relation aus BIP bzw. Bruttowertschöpfung und Arbeitseinsatz ein Ausdruck für die Arbeitsproduktivität, die Relation Volkseinkommen zu Bevölkerung beschreibt ein Maß für das Durchschnittseinkommen.

    Input-Output-Rechnung

    Die Input-Output-Rechnung umfasst die Aufstellung und Auswertung von Input-Output-Tabellen. Ihr Ziel ist die detaillierte quantitative Darstellung und Analyse der güter- und produktionsmäßigen Verflechtungen zwischen den Sektoren einer Volkswirtschaft sowie deren Anteil an den Gesamtwerten der Produktion, Einkommensentstehung und Verwendung und ihrer Beziehungen zur übrigen Welt. Hierzu wird ein umfangreiches Tabellenwerk erstellt, das nach Wirtschaftsbereichen und Gütergruppen (Produktionsbereichen) gegliedert ist.

    Vermögensrechnung

    Die Vermögensrechnung stellt den Bestand verschiedener Vermögenswerte (Vermögensgüter und Forderungen) und Verbindlichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Aus einem umfassenden Katalog möglicher Vermögenswerte findet sich in der Darstellung der amtlichen deutschen VGR nur eine eingeschränkte Zahl an nachgewiesenen Größen. Es handelt sich um bestimmte produzierte Vermögensgüter (darunter auch immaterielles Vermögen) und um Forderungen. Forderungen und Verbindlichkeiten werden im Rahmen der Finanzierungsrechnung ermittelt.

    Finanzierungsrechnung

    Die Finanzierungsrechnung stellt als Stromrechnung systematisch die Veränderung der Forderungen und Verbindlichkeiten der einzelnen Sektoren dar. Sie wird von der Deutschen Bundesbank zusammen mit einer Bestandsrechnung erstellt, die in gleicher Weise abgegrenzte Größen nachweist. Hierdurch wird einsichtig, in welche Sektoren die gesparten Mittel der privaten Haushalte während eines bestimmten Zeitraums geflossen sind oder in welcher Form die Finanzierungsmittel den anderen Sektoren bereitgestellt wurden.

    Satellitensysteme

    Ergänzend zum bisher beschriebenen Teil der VGR schlägt das System of National Accounts 1993 die Entwicklung verschiedener Satellitensysteme vor, so etwa Haushalts-, Umwelt- oder Tourismussysteme. Das Statistische Bundesamt (StBA) konzentriert sich insbes. auf eine weit entwickelte, auf die Umwelt bezogene Darstellung, die als umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR) bezeichnet wird. Ferner ist hier die sozioökonomische Berichterstattung zu nennen, insbes. die Berücksichtigung der unentgeltlich erbrachten Leistungen in privaten Haushalten (= Haushaltsproduktion).

    Geschichte

    Die Geschichte der VGR reicht weit zurück. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts wurden erste Volkseinkommens- und Vermögensrechnungen für England durchgeführt. Für die Weiterentwicklung von besonderer Bedeutung sind die Konzepte des Wirtschaftskreislaufs, als deren prominenteste Vertreter Quesnay, Marx und Keynes zu nennen sind. Für Deutschland sind zudem die Einkommensschätzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Sozialproduktsberechnungen nach dem Ersten Weltkrieg zu erwähnen. Nach Entwicklung verschiedener Rahmen für die Darstellung der VGR (etwa durch die OECD und die UN) und eines aus den Sechzigerjahren stammenden deutschen Systems ist für die gegenwärtige Darstellung weltweit das System of National Accounts (SNA 1968, 1993, 2008) maßgeblich, das wiederum die Grundlage für das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1970, 1984, 1995) bildet. Detaillierte Vorschriften der sogenannten ESVG-Verordnung schreiben das Lieferprogramm für die EU im Rahmen der deutschen VGR fest. Gesamtrechnungssysteme sind mithin keineswegs statische Gebilde oder abgeschlossene Forschungsfragen, vielmehr werden diese laufend weiterentwickelt, um sich ändernden Informationsbedürfnissen der Nutzer und internationalen Anforderungen Rechnung zu tragen.

    „Beyond GDP“

    Ausgehend von der Kritik der rein quantitativen Verfasstheit der VGR und der Diskussion des BIP als alleinigem Wohlstandsindikator rücken zunehmend alternative Konzeptionen in die öffentliche Debatte. Neben eindimensional angelegten Rechenwerken, die als Ergänzung zur VGR konzipiert, aber noch innerhalb des tradierten Systems darstellbar sind (etwa durch Berücksichtigung immaterieller Vermögenswerte wie Humankapital, sozialer Kosten wie Umweltverschmutzung oder sozialer Erträge wie Bildung und Freizeit), werden vermehrt auch zusammengefasste Indikatoren entwickelt (Composite Indicators). Solche mehrdimensional angelegten Bewertungssysteme, die neben monetär fassbaren Größen auch nichtmonetäre Zusammenhänge abzubilden versuchen, verzichten auf die Geschlossenheit der VGR, gewinnen aber im Gegenzug größere Sensitivität für die verschiedenen Komponenten der Lebensqualität. Als Maß für die Lebensqualität werden so unterschiedliche Größen wie Gesundheit, Bildung, Umweltbedingungen, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, familiäre Bindungen, gesellschaftliche Chancen oder Partizipationsmöglichkeiten mittels entsprechender Indikatoren erfasst.

    Über die Frage, wie Wohlstand zu messen und auf welche Art wichtige qualitative Zusammenhänge statistisch zu beschreiben seien, wird in Wissenschaft und Politik eine intensive Debatte geführt. Sowohl die OECD („Better Life Index“) als auch die Vereinten Nationen (UN; „Human Development Index“), die sog. Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, die Bundestags-Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ sowie der deutsche und französische Sachverständigenrat haben entsprechende Vorschläge zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt erarbeitet.

    Allerdings scheint es, als ob ein möglichst objektiver Vergleichsmaßstab für Wohlstand und Lebensqualität auch im Rahmen dieser Ansätze weiterhin ein Desiderat bliebe. Entstehen doch sowohl bei der Konzeption als auch der Umsetzung solcher alternativer Rechensysteme zahlreiche Schwierigkeiten – zu nennen sind etwa Bewertungs-, Abgrenzungs- und andere Detailprobleme –, die eine objektive Erfassung und Vergleichbarkeit in weite Ferne rücken lassen. Insgesamt überrascht es nicht, dass das Inlandsprodukt nach wie vor als allgemeines Maß für den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft verwendet wird, obwohl es zentrale ökonomische, soziale und ökologische Sachverhalte nicht berücksichtigt. Aus heutiger Sicht erscheint die Verwendung des BIP als Indikator, welcher zwar keinesfalls hinreichend zur Messung des Wohlstands eines Landes ist, dessen analytische Kraft aber genau wie seine konzeptionelle Verengung allgemein bekannt ist, unverändert zweckdienlich. Bei aller Unzulänglichkeit und Fehlerbehaftetheit ist quantitative Eindeutigkeit gegenüber qualitativer Mehrdimensionalität vorzuziehen, sofern eine solche nur mit komplexen, im Detail umstrittenen, schwer nachvollziehbaren oder gar (politisch) manipulierbaren Indikatorensystemen zu erreichen ist.

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