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Sozialpolitik in der Marktwirtschaft

Definition: Was ist "Sozialpolitik in der Marktwirtschaft"?

Ziele, Handlungsmöglichkeiten und Reichweite staatlicher Sozialpolitik im Rahmen marktwirtschaftlicher Ordnungen sind in der Wissenschaft wie in der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik Gegenstand anhaltender Kontroversen. Dahinter stehen teilweise unterschiedliche Grundhaltungen zum Verhältnis individueller Eigenverantwortung und staatlichen Handelns, teilweise unterschiedliche Schlussfolgerungen aus den beobachteten Wirkungen konkreter sozialpolitischer Maßnahmen.

Entwickelte Volkswirtschaften verfügen heute praktisch ausnahmslos zumindest über einen Kernbestand an Arbeitsmarktregulierungen (Arbeitsmarktpolitik) und an bes. Instrumenten und Institutionen zur sozialen Sicherung eines nennenswerten Teils der (Erwerbs-)Bevölkerung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, verminderter Erwerbsfähigkeit und zum Zweck der Altersvorsorge, häufig ergänzt um Eingriffe in angrenzenden Feldern wie Bildung, Lebensbedingungen von Familien mit minderjährigen Kindern, von Behinderten sowie, ganz generell, von Personen mit geringem Einkommen. Im Zuge der demografischen Alterung ihrer Bevölkerungen und der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft ergeben sich für die Aus- bzw. Umgestaltung dieser Systeme große Herausforderungen.

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Das Original: Gabler Wirtschaftslexikon

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    Ausführliche Definition im Online-Lexikon

    Inhaltsverzeichnis

    1. Begründung
      1. Überblick
      2. Sozialpolitisch relevante Fälle von Marktversagen
      3. Verteilungspolitische Ziele
    2. Entwicklung
      1. Anfänge
      2. Entfaltung in Deutschland nach 1945
      3. Modelle im internationalen Vergleich
    3. Herausforderungen und Reformen
      1. Arbeitsmarktentwicklung und Erwerbsanreize
      2. Demografischer Wandel
      3. Sozialpolitik im Systemwettbewerb

    Begründung

    Überblick

    Staatliche Interventionen in das Wirtschaftsgeschehen, die sich der Sozialpolitik zuordnen lassen (Theorie der Sozialpolitik), werden häufig durch Verweis auf verteilungspolitische Zielsetzungen (Verteilungsgerechtigkeit) begründet, die im Rahmen dezentral koordinierter Marktprozesse nicht oder nicht in ausreichendem Maße erreicht werden. Zugleich wird allerdings auch auf die soziale Dimension einer Wirtschaftsordnung mit funktionierendem Wettbewerb hingewiesen, die zum ökonomischen Umgang mit knappen Ressourcen anhält, wirtschaftlichen Wohlstand erhöht und das Entstehen wirtschaftlicher und politischer Macht behindert.

    Anknüpfend an die neoklassisch geprägte Wohlfahrtsökonomik können sozialpolitische Interventionen auch ohne Rückgriff auf verteilungspolitische Ziele mit dem Ziel ökonomischer Effizienz gerechtfertigt werden, unter Hinweis auf bestimmte Fälle von Marktversagen, die sich nur durch staatliche Eingriffe lösen lassen. An sozialpolitischen Maßnahmen wird aber auch Kritik geübt, weil sie Fehlanreize („Sozialstaatsfallen“) erzeugen, die zu statisch oder dynamisch ineffizientem Verhalten der dadurch Belasteten wie der Begünstigten führen (Staatsversagen).

    Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie weisen darauf hin, dass von politischen Entscheidungsträgern sowie öffentlicher Verwaltung aufgrund ihrer Handlungsbedingungen und Anreize generell kein wohlfahrtsmaximierendes Verhalten zu erwarten sei. Neben Vorschlägen, wie durch sozialpolitische Maßnahmen ausgelöste Ineffizienzen verringert und Fehlentwicklungen im Bereich der politischen Willensbildung durch konstitutionelle Regeln eingedämmt werden können, wird von Ökonomen daher vereinzelt auch ganz fundamentale Skepsis gegenüber einer speziellen Sozialpolitik geäußert und eine „Marktwirtschaft ohne Attribute“ gefordert.

    Sozialpolitisch relevante Fälle von Marktversagen

    Mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen werden in der ökonomischen Fachliteratur folgende Anlässe genannt, bei denen sozialpolitische Maßnahmen effizienzsteigernd wirken können: a) Herstellung einer größeren Balance der Verhandlungsmacht auf Arbeitsmärkten, die bei unreguliertem Wettbewerb sehr ungleich verteilt sein kann; b) Stabilisierung intergenerationeller Austauschbeziehungen bei der Unterstützung von Kindern und Älteren, da deren zeitliche Struktur den Abschluss bindender Verträge unmöglich macht (Generationenvertrag); c) Überwindung von Kreditbeschränkungen, die den Erwerb von marktfähigen Qualifikationen trotz entsprechender Fähigkeiten behindern; d) Überwindung von Problemen adverser Selektion, die v.a. bei der Versicherung von Gesundheits- und Langlebigkeitsrisiken eine große Rolle spielen können; e) Lösungen für Fälle, in denen asymmetrische Informationen rationale Konsumentscheidungen behindern, was v.a. in den Bereichen Krankenbehandlung und Kauf von Arzneien und Nahrungsmitteln dringlich werden kann; f) Versicherung von gesamtwirtschaftlichen „Risiken“ wie Arbeitslosigkeit und Inflation, die der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts bzw. langfristiger finanzieller Vorsorge entgegen stehen.

    Der sozialpolitische Bezug all dieser Anlässe kann letztlich durchgängig darin gesehen werden, dass es sich um Marktversagen beim Erwerb und der Verwertung von Humankapital (als Inbegriff der Erwerbskapazität von Individuen) bzw. von Humanvermögen (als weiter gefasstem Begriff menschlicher Fähigkeiten) handelt.

    Verteilungspolitische Ziele

    Zur Begründung sozialpolitischer Maßnahmen können auch verschiedene Verteilungsziele angeführt werden, die typischerweise in sehr unterschiedlicher Beziehung zu Marktprozessen und ‑ergebnissen stehen. Zu nennen sind v.a. folgende Konzepte mit Bezug auf die a) Gerechtigkeit von Resultaten: (1) Leistungsgerechtigkeit, die bei funktionierendem Wettbewerb zugleich mit dem Effizienzziel realisiert wird, aber mit einer sehr ungleichen Verteilung von Marktergebnissen einher gehen kann; (2) Bedarfsgerechtigkeit, die zumeist von einem gewissen Grad an Ungleichheitsaversion getragen wird und i.d.R. nur durch eine korrigierende Umverteilung von Marktergebnissen hergestellt werden kann; (3) Varianten der Bedarfsgerechtigkeit, die Umverteilung nur bis zur Sicherung gewisser Mindesteinkommen oder Mindestausstattungen mit Gütern („Existenzminimum“) bzw. nur bei ausgewählten („lebensnotwendigen“) Gütern erfordern; b) Gerechtigkeit von (Markt‑)Prozessen: Regel- oder allgemeiner Prozessgerechtigkeit, bei der Marktergebnisse z.B. dann als „gerecht“ erscheinen, wenn alle Akteure im Marktgeschehen denselben Regeln unterliegen und auf den Märkten funktionierender Wettbewerb herrscht; c) Gerechtigkeit von Ausgangsbedingungen: Chancengerechtigkeit oder ‑gleichheit, bei der die faktischen Möglichkeiten, Zugang zu Märkten zu finden und dort vermarktbare Leistungen zu erbringen, im Mittelpunkt stehen, sodass u.U. umverteilende Maßnahmen bezüglich der Voraussetzungen dafür erforderlich werden. Die konzeptionelle Trennung von Ausgangsbedingungen, Prozessen und Resultaten lässt sich im realen Wirtschaftsgeschehen nicht strikt einhalten, auf den verschiedenen Gerechtigkeitskonzepten basierende Ansätze und Instrumente der Sozialpolitik sind jedoch in ihrer Orientierung unterscheidbar.

    Die Möglichkeit einer ausgleichenden Umverteilung von Anfangsausstattungen oder Marktergebnissen hat ex ante, d.h. solange die Betroffenen nicht wissen, ob sie dabei zu den Belasteten oder Begünstigten gehören werden, den Charakter einer Versicherung. Hinter einem „Schleier der Unwissenheit“ (Rawls u.a.) würden risikoaverse Individuen daher ein gewisses Maß an Umverteilung, die ex post vorgenommen wird, verfassungsmäßig vereinbaren. Anknüpfend an die neuzeitliche Sozialphilosophie lässt sich umverteilende Sozialpolitik daher auch als wechselseitige Versicherung auf der Basis eines wohlfahrtssteigernden „Gesellschaftsvertrages“ begründen. Offen bleibt aber das Ausmaß so begründbarer Umverteilung und die damit ex post verbundenen Effizienzprobleme stellen sich unverändert.

    Praktische Bedeutung für die Diskussion über sozialpolitische Maßnahmen haben v.a. etwaige Konflikte zwischen Leistungs- und (Mindest-)Bedarfsgerechtigkeit, wobei sich Anreizprobleme, die aus bedarfsorientierter Umverteilung resultieren können, durch eine stärkere Ausrichtung politischer Eingriffe auf Chancengerechtigkeit mildern lassen.

    Entwicklung

    Anfänge

    Ursprünge der Sozialpolitik in entwickelten Volkswirtschaften lassen sich bis zur Armenfürsorge im Mittelalter zurückverfolgen, die vergleichsweise paternalistisch und karitativ ausgerichtet war und häufig von bürgerschaftlichem Engagement (Stiftungen) getragen wurde.
    Als Einstieg in eine staatliche Sozialpolitik werden häufig das Verbot von Kinderarbeit gegen Mitte des 19. Jh. (in Preußen: 1839; ähnlich in anderen deutschen und europäischen Staaten sowie in Nordamerika) und die fast simultane Einführung einer allgemeinen Schulpflicht genannt, die den potenziell produktiven, effizienzsteigernden Charakter sozialpolitischer Maßnahmen sehr gut illustrieren.
    Die weitere Entwicklung stand im Zeichen der Lösung der „Arbeiterfrage des 19. Jh.“ (soziale Frage), die in Deutschland mit der Bismarckschen Sozialversicherungspolitik (1881–89) zur Gründung des ersten staatlichen Alterssicherungssystems der Welt führte. Die Sozialpolitik war in dieser Zeit vorrangig auf die Verbesserung der Lebenslagen der Arbeitnehmer ausgerichtet und wurde dann sukzessive auf deren Angehörige und andere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet.

    Entfaltung in Deutschland nach 1945

    Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nach den Vorstellungen ihrer geistigen Väter die historische „soziale Frage“ überwinden und auf der Grundlage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Wettbewerbsordnung zugleich ein System sozialen Schutzes und Ausgleichs ermöglichen, das die gesellschaftlichen Ziele der Freiheit und der Gerechtigkeit vereint. Kennzeichnend dafür waren eine bes. Arbeitsmarktordnung (Tarifautonomie) und ein vorrangig beitrags- und erwerbsbezogenes System sozialer Sicherung (Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung).
    In den 1960er- und 1970er-Jahren ergaben sich durch einen weiteren Ausbau von Versichertenkreis und Leistungsniveau dieses Systems, eine ergänzende Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums (Sozialhilfe als Rechtsanspruch) sowie -  im Gefolge erster, spürbarer Beschäftigungsprobleme - eine massive Ausweitung der Arbeitsmarktpolitik (Arbeitslosenhilfe, „aktive Arbeitsmarktpolitik“, Vorruhestand) jedoch nennenswerte Akzentverschiebungen. Der Sozialstaat wurde trotz stark steigender finanzieller Belastungen von den Bürgern immer mehr an seinem historisch gewachsenen Sicherungs- und Leistungsniveau gemessen und eine weit verbreitete Vorstellung von einem „Besitzstand” an sozialen Errungenschaften begründet, vor deren Reform politisch Verantwortliche mit Rücksicht auf ihre Wiederwahlchancen zurückschreckten.
    Im Prozess der Wiedervereinigung wurden die sozialstaatlichen Institutionen der alten Bundesländer ab 1990 im Kern unverändert auf die neuen Bundesländer übertragen. Allerdings erwiesen sich die Hoffnungen auf ein schnelles Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern als Illusion. U.a. dadurch wurden in der Folgezeit Grenzen der Tragfähigkeit des realisierten Umfangs der Sozialleistungen für wirtschaftliche Wertschöpfung und Beschäftigung am Standort Deutschland offen gelegt. Zudem rückten in dieser Zeit die Auswirkungen der demografischen Entwicklung für die Sozialpolitik in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein. Trotz anhaltenden politischen Widerstands entstand ein breiter Konsens für die Notwendigkeit einer Reform des Sozialstaates, die u.a. in zahlreichen Reformkommissionen (Hartz-Kommission, Rürup-Kommission) vorbereitet wurden. Ab dem Jahr 2000 wurden daher v.a. in den Bereichen Alterssicherung (Riester-Rente, Rente mit 67) und Arbeitsmarktpolitik (Hartz-Gesetze) weitreichende Reformen vorgenommen (Agenda 2010).

    Modelle im internationalen Vergleich

    In der international vergleichenden Sozialpolitikforschung werden in entwickelten Volkswirtschaften die idealtypischen Grundmodelle des Sozialstaats und des Wohlfahrtsstaats unterschieden. Darüber hinaus existieren zahlreiche mehrgliedrige Typologien, die den kontinental-europäischen Sozialstaat, der i.d.R. ein komplexeres System parafiskalischer Sicherungsinstitutionen, stärkere Mitwirkungsrechte der Tarifpartner und ein höheres, aber stark am jeweiligen Haushaltskontext anknüpfendes Sozialleistungsniveau aufweist, auch als „konservativ“ oder „korporatistisch“ charakterisieren, und einerseits vom „liberalen“ angelsächsischen Wohlfahrtsstaat, mit tendenziell niedrigeren, aber universeller gewährten Leistungen in unmittelbarer Verantwortung des Staates, abgrenzen, andererseits vom „sozialdemokratischen“ skandinavischen Wohlfahrtsstaat, mit individualistisch-universell gewährtem, wiederum vergleichsweise hohem Leistungsniveau und einer generellen Ausrichtung auf allseitige Erwerbsbeteiligung; fallweise wird in solchen Gegenüberstellungen auch verzeichnet, dass staatliche Sozialpolitik in südeuropäischen Ländern generell wenig entwickelt ist. Der Ursprung solcher Modelle von Sozialpolitik im Rahmen marktwirtschaftlicher Ordnungen wird dabei ausnahmslos in Europa gesehen.

    Herausforderungen und Reformen

    Arbeitsmarktentwicklung und Erwerbsanreize

    Im Gefolge der „Ölpreisschocks“ von 1973 und 1979 und im Zuge einer fortschreitenden internationalen Verflechtung der Wirtschaftstätigkeit („Globalisierung“) erlebten zahlreiche entwickelte Volkswirtschaften eine langfristige Zunahme der „strukturellen“, „Sockel“- oder „Trend“-Arbeitslosigkeit. In Deutschland setzte sich diese Entwicklung praktisch ungebrochen bis 2005 fort. Das Verharren der Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau selbst bei günstiger konjunktureller Entwicklung („Hysterese“) wurde dabei auch mit ungünstigen Anreizeffekten der sozialen Sicherung im Falle von Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosenhilfe, „Sozialstaatsfalle“) und mit hohen Lohnnebenkosten begründet, die insbes. aus dem gesamten System sozialer Sicherung resultieren. Den Vorbildern anderer Länder folgend, in denen ähnliche Systeme teilweise bereits wesentlich früher umgestaltet wurden, erfolgten in Deutschland in den Jahren ab 2002 weit reichende Reformen (Hartz-Gesetze). Ziel der Arbeitsmarktreformen war und ist es, eine neue Balance zwischen der sozialpolitisch erwünschten Absicherung von Risiken des Erwerbslebens und einer konsequenten Aktivierung erwerbsfähiger Sozialleistungsbezieher herzustellen. Im Anschluss an die Reformen ergab sich eine erkennbare Trendumkehr bei der Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008–10 nur kurzzeitig überlagert wurde. Befürchtungen über neue Beschäftigungsrisiken knüpfen sich derzeit an den fortschreitenden technologischen Wandel (Digitalisierung). Auch wenn solche Befürchtungen übertrieben sein sollten, muss sich die soziale Sicherung auf mit dem Wandlungsprozess einher gehende Änderungen von Erwerbsverläufen, Arbeitsbeziehungen etc. einstellen. Die jüngste Krise hat in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft das Bewusstsein gestärkt, dass ein handlungsfähiger Sozialstaat integraler Bestandteil einer staatlich gewährleisteten Wettbewerbsordnung ist und die Leistungsfähigkeit einer Marktwirtschaft unmittelbar steigern kann. Die aus früheren Erfahrungen gewonnenen Einsichten bezüglich der notwendigen Anpassungsfähigkeit des Sozialleistungssystems und die Absage an überzogene Erwartungen der Bürger an den Sozialstaat bleiben aber unverändert gültig.

    Demografischer Wandel

    Der Geburtenrückgang der 1970er-Jahre und eine ständige Zunahme der Lebenserwartung führen in zahlreichen entwickelten Volkswirtschaften zu einer massiven Verschiebung der Altersstruktur der Wohnbevölkerung (demografische Alterung), die z.B. in Deutschland ab etwa 2020 immer klarer hervortritt und sich bis etwa 2035 noch zusehends verschärft. Für alle im Umlageverfahren finanzierten Zweige des Sozialversicherungssystems führt diese Entwicklung bei unverändertem Leistungsniveau aller Voraussicht nach zu starken finanziellen Anspannungen. Nur bei massiven Senkungen des Leistungsniveaus, die den Sicherungszweck des Systems verletzen und u.a. zu steigender „Altersarmut“ führen könnten, ließen sich die Sozialversicherungsbeiträge konstant halten. Relevant sind diese Probleme nicht nur für die gesetzliche Rentenversicherung (GRV), wo ihnen in Deutschland mittlerweile mit einer ganzen Serie von Reformen entgegen gewirkt wird (Rentenreform), sondern auch für die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung, wo grundlegende Reformen mit ähnlicher Zielrichtung und Reichweite bis heute fehlen. Zentrale Elemente der Rentenreformen sind langfristige, regelgebundene Senkungen des Niveaus gesetzlicher Renten, der partielle Übergang zu einer Altersvorsorge im Kapitaldeckungsverfahren durch staatliche Förderung ergänzender, betrieblicher oder privater Vorsorgeersparnisse (u.a. Riester-Rente) sowie eine Heraufsetzung der Regelaltersgrenze für den Bezug von Altersrenten (von 65 auf 67 Jahre) zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Ähnliche Ansätze zur Stärkung eigenverantwortlicher Sicherung mit staatlicher Regulierung der dabei individuell zu übernehmenden Risiken sind auch für andere Zweige des Sozialversicherungssystems zu prüfen. Da die aktuelle Wirtschaftskrise die Akzeptanz für verstärkte private Vorsorge durch Vermögensbildung beeinträchtigt haben dürfte, erhöht sich dann allerdings auch aus sozialpolitischer Sicht die Dringlichkeit einer konsistenteren Regulierung der Finanzmärkte. Schließlich stellt der demografische Wandel auch wegen seiner bislang unabsehbaren, noch wenig erforschten Folgen auch für die Entwicklung von (Arbeits-)Produktivität und technischem Fortschritt eine anhaltend große Herausforderung für die Sozialpolitik und ihre Anpassungsfähigkeit dar.

    Sozialpolitik im Systemwettbewerb

    Die fortschreitende internationale Verflechtung durch steigenden Handel mit Gütern und Dienstleistungen sowie durch die Zunahme von Kapitalverkehr und Arbeitskräftemobilität (Globalisierung) führt zugleich zu einem immer intensiveren Systemwettbewerb im Bereich der Sozialpolitik, sowohl innerhalb der Europäischen Union (EU) als auch auf globaler Ebene. Einerseits zwingt dieser Wettbewerb einzelne Volkswirtschaften dazu, Ineffizienzen zu vermindern, die durch bestehende sozialpolitische Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen ausgelöst werden können. Andererseits birgt er die Gefahr einer effizienzmindernden „Erosion“ selbst eines harten Kerns sozialpolitischer Maßnahmen sowie von Ordnungsregeln, die dem Wettbewerb auf nationaler Ebene zur Überwindung von Marktversagen ganz bewusst entzogen wurden. Auf der Ebene nationaler Sozialpolitik ergeben sich daraus Herausforderungen im Umgang mit wachsender Ungleichheit und einer verstärkten Steuerung durch ökonomische Anreize, wo in der Vergangenheit auf die Begrenzung des Eigennutzes durch christliche Moral oder die Solidarität der Arbeitnehmerschaft vertraut wurde. Entsprechende Ansätze können in einer andersartigen Verbindung von sozialer Sicherung und Eigenverantwortung bei erhöhter Transparenz und Effektivität sozialstaatlicher Institutionen sowie in einer verstärkten Förderung und Forderung individueller Handlungskompetenzen als Triebkraft neuer wirtschaftlicher Dynamik bestehen; auch eine stärkere Betonung des Ziels der Chancengerechtigkeit anstelle reiner Bedarfsgerechtigkeit kann dazu beitragen. Daneben ist jedoch auch eine stärkere Koordinierung sozialpolitischer Maßnahmen erforderlich, speziell innerhalb der EU (Sozialpolitik der Europäischen Union), aber darüber hinaus auch im Bereich der internationalen Handelspolitik, die als Grundlage für die Verbreitung gewisser Mindeststandards genutzt werden könnte, z.B. indem – ähnlich wie bei den Anfängen staatlicher Sozialpolitik in entwickelten Volkswirtschaften – durch eine globale Ächtung von Kinderarbeit ein erster Einstieg in eine wohlfahrtssteigernde Sozialpolitik auch in Schwellen- und Entwicklungsländern vollzogen wird (internationale Sozialpolitik).

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